Tag 79: Der Grand Canyon – das größte Gemälde der Welt
Serendipity – Teil 2

Sonntag, 27. Januar 2013
Flagstaff – Grand Canyon (South Rim) – Flagstaff
Die Küche des Hostels ist genauso niedlich rudimentär und familiär wie mein Schlafzimmer. An einem großen Tisch frühstücke ich mit einer Italienerin, ihrem britisch-kanadisch-italienischem Partner und einem Romand mit chilenischen Wurzeln. Es gibt Oatmeal und die üblichen Konversationen, die Hostelgäste am frühen Morgen so führen: Es geht um die Herkunft, darum, wo man schon alles war, wie lange man reist und so weiter. Kurz darauf schlüpfe ich in meine von gestern noch vollkommen verdreckten und stinkigen Schuhe. Ich hatte keine Ahnung, wie ich die hätte säubern und bis heute wieder trocken bekommen sollen. Meinen Mantel hatte ich über Nacht in den Heizkörper der Lobby gestopft, was dennoch nicht vollkommen ausgereicht hat. So viel Wasser wie gestern habe ich selten in meinem Leben aufgesogen.
Ich schwinge mich ins Auto und düse den Highway 180 für 130 Kilometer in Richtung Norden. Der Weg ist wie immer total einfach: geradeaus, geradeaus, geradeaus. Irgendwann mal nach rechts – spätestens da weisen aber auch Schilder auf den Canyon hin – und schon ist man da. Wie üblich ist die Strecke aber keineswegs langweilig. Die Landschaft ist bewaldet, bei Flagstaff zudem noch unter einer weißen Schneeschicht. Je näher ich dem Canyon komme, desto weniger verschneit ist der Boden und – vermutlich wichtiger – desto weniger Wolken nehmen den Himmel ein. Das Wetter wird also besser und besser, farbenintensive Regenbogen schmücken das Firmament und am Ziel ist der Regen sogar gänzlich verschwunden. Yes!
Der Eintritt mit eigenem Auto kostet 25 Dollar und gilt für eine komplette Woche. Fußgänger und Radfahrer bekommen bereits für zwölf Dollar einen Wochenpass. Ich lenke den Wagen zum recht leeren Parkplatz des visitor center. Meine Eltern haben den Canyon vor einigen Jahren besucht und waren begeistert. Immer wieder erzählten sie mir, dass der Anblick nicht nur vollkommen überwältigend, sondern auch absolut irreal anmutet.
»Hollywood spielt uns einen Streich«, war ein Satz, den meine Mutter regelmäßig zur Verbildlichung benutzte: der Canyon ein matte painting und kein Naturereignis. Solche Beschreibungen machen neugierig. Ich will daher die volle Wucht des »giant hole« – wie Cari den Grand Canyon nennt – erleben und bewege mich mit gesenktem Kopf und den Blick auf meine Füße fixiert auf die Kante des Canyons zu. Als ich das Geländer erreiche, hebe ich meinen Blick und … bin überwältigt. Das ist schlichtweg unmöglich! Vor mir tut sich ein Loch auf, dessen Größe und Tiefe ich absolut nicht einschätzen kann. Und die Landschaft sieht wahrhaftig wie ein Gemälde aus. Ein Gemälde, das so nah erscheint, als könne man es anfassen. Streckt man seine Hand danach aus, ist es dann aber doch unbeschreiblich weit weg. Es ist die natürlichste Reizüberflutung, die ich je erlebt habe.
Bevor ich von diesen Fakten und Zahlen wusste, machte ich mir noch Gedanken, ob ich zum South Rim oder zum North Rim fahren soll. Die Entscheidung zugunsten der südlichen Kante kam vielmehr dadurch zustande, dass das North Rim im Winter geschlossen ist. Das South Rim liegt in knapp 2100 Metern Höhe. Dass ich mich so weit oben befinde, habe ich übrigens nicht bemerkt. Der Weg vom in gleichen Höhen gelegenen Flagstaff hierher fällt eher flach aus. Das North Rim liegt rund 300 Meter höher und die Temperaturen rund 6 °C niedriger. Im Sommer beträgt die Temperatur an der Südkante 10 bis 30 °C, im Winter liegt sie bei -7 bis 10 °C. Nun ist der Canyon aber nicht nur lang und breit, sondern auch tief.
Ich spaziere staunend die Kante entlang. Durch den Regen der letzten Tage strahlen die unterschiedlichen Farben der Sedimentschichten noch stärker als an trockenen Tagen, höre ich einen Ranger einer Touristengruppe erklären. Jeder Farbunterschied in den Felsen steht für eine andere Epoche der Erdgeschichte. Wir blicken also zurück in die tiefste Vergangenheit unseres Planeten. Eine Ehrfurcht erweckende Vorstellung, die durch Regenbogen an Dramatik verliert und an Schönheit gewinnt.
»Double rainbow«, höre ich mich mehrfach grinsend flüstern und schüttele freudig und ungläubig meinen Kopf. Ich weiß nicht, ob ich jemals so viele Regenbogen gesehen habe, die sich dann auch noch teilweise übereinander spannen. Ganz sicher bin ich mir aber, dass ich noch nie welche unter mir gesehen habe. Was ist das nur für ein magischer Ort? Double rainbow …
Am Yavapai Point gibt es eine observation station, ein Häuschen, in welchem dem geneigten Besucher die verschiedenen geologischen Gegebenheiten erklärt werden. Da ich weniger studieren als vielmehr entdecken möchte, halte ich mich nicht allzu lange im fraglos interessanten Yavapai Point Trailside Museum auf. Ich lese aber beispielsweise genug, um zu erfahren, dass der Colorado River seinen Namen 1776 vom spanischen Missionar Fray Francisco Garces aufgrund seiner roten Farbe erhalten hat. Ich erfahre, dass die klitzeklein anmutende Kaibab Bridge, die ich von hier aus sich über dem Fluss spannen sehe, über 130 Meter lang ist und dass es einen kompletten Tag dauert, um zum Colorado River zu wandern. Einen kompletten Tag? Bis zum Fluss sind es 16 Kilometer Weg. Bis zum North Rim sind es dann weitere 22,5 Kilometer, für die der durchschnittliche Wanderer einen bis zwei weitere Tage benötigt. Ich sehe im Laufe des Tages auch mehrere Schilder, die vor der leichtsinnigen Idee warnen, den Weg zum Fluss und wieder zurück an nur einem Tag meistern zu wollen. Das ist doch unfassbar! Ich habe in meinem Leben den einen oder anderen Urlaub in den Bergen gemacht. Allerdings hatte ich nie das Gefühl, dass ein so nah erscheinender Ort so weit weg ist. In den Grand Canyon hineinzuspazieren und dann in einem riesigen Wüstenloch umherzurennen ist zudem noch einmal ein anderes Gefahrenkaliber, als in Bayern von Gunzesried nach Oberstdorf zu wandern. Da das Einschätzen von Entfernungen so schwer ist, würde ich das riesige Loch sowieso eher mit dem Meer als mit dem Gebirge vergleichen. Schließlich geht es von meinem Standpunkt aus ja auch nach unten und nicht nach oben. Als habe man dem Bodensee den Stöpsel gezogen. Apropos Wasser: Will man den Colorado River vom östlichen Beginn des Canyons bis zu seinem westlichen Austritt mit einem Ruderboot entlangtuckern, benötigt man zwei bis drei Wochen. Mit einem Motorboot ist man in sieben bis zehn Tagen durch.
Ich sehe recht weit entfernt einen Vogel durch den Canyon fliegen. Einen weißen Vogel. Moment mal … Wie weit ist der Vogel denn von mir entfernt? Wie groß ist das Vieh? Ich nehme die Objektivkappe von meiner Kamera und zoome das UFO heran. Das gibt’s doch nicht: Der Vogel ist tatsächlich ein Helikopter! Der Hubschrauber ist so weit entfernt, dass man nichts von ihm hört. Ohne den Zoom hätte ich ihn auch niemals als das, was er ist, identifizieren können. Und ich habe sehr gute Augen. Unglaublich.
Meine Güte: Ich bin schon seit über zwei Stunden unterwegs und habe – wenn ich mir so die Landkarte ansehe – noch gar nichts vom Canyon gesehen. Ich bin gerade einmal etwas mehr als einen Kilometer weit gekommen! Wieder im Freien bleibe ich dennoch nur wenige Meter später erneut an einer Informationstafel hängen: Im Winter kann man aufgrund der geringeren Luftverschmutzung – eine der geringsten in den USA – zwischen 210 und 400 Kilometer weit blicken. Ein menschliches Auge kann 400 Kilometer weit blicken? Okay, doofe Frage. Im Sommer beschränkt sich die Aussicht auf durchschnittliche 152 Kilometer. Als Beispiel für die aktuelle Sicht dient auf der Tafel Mount Trumbull, ein Berg, der 100 Kilometer Luftlinie von meiner aktuellen Position entfernt liegt. Ich schaue in Richtung Westen und erkenne in der Tat klar und deutlich den 2,4 Kilometer hohen Berg. Verstehe ich das richtig und der 100 Kilometer entfernte Berg ist gerade einmal 300 Meter höher als der Flecken, an dem ich momentan stehe? Und da kann ich ihn sehen? Mir geht’s bei jeder zweiten Information, die ich wissbegierig aufsauge, wie meinen Eltern: Da will mich doch wer verarschen? Unser Planet und der menschliche Körper faszinieren mich heute wahrlich sehr. Was ein Spaziergang an einer riesigen Schlucht so alles bewirken kann: großartig!
Ich beschließe, mit dem kostenlosen Shuttlebus zurück zum Parkplatz zu fahren und mein Auto abzuholen. Die auf der Karte eingezeichneten Aussichtspunkte sind allesamt recht weit voneinander entfernt und der Shuttlebus kann einen durchaus warten lassen. Auf dem westlichsten Teilstück des befahrbaren South Rim, der Hermits Road, operiert der Bus zudem von Anfang Dezember bis Ende Februar überhaupt nicht. Der Zugang mit dem eigenen Fahrzeug ist gestattet. Ja, und wozu habe ich auch schließlich das Auto? Die Zeit verfliegt – mittlerweile ist es schon über drei Stunden her, dass ich den Nationalpark betreten habe – und ich möchte so viel wie möglich vom Canyon sehen. Am liebsten würde ich auch in ihn hinabsteigen. Ob dafür die Zeit ausreicht? Ich bin mir jetzt bereits sicher, dass ein Tag zu wenig ist, um den Grand Canyon auch nur ansatzweise zu erforschen. Nicht zum ersten Mal kommt es mir so vor, als ob meine drei Monate für diese Reise zu kurz seien. Oje, bloß nicht wieder an das Ende der Reise denken. Keine zehn Tage mehr. Final countdown. Verdammt.
Ich mache Halt auf der Market Plaza, einem Parkplatz, der von Geschäften umzingelt ist. Im Deli des Supermarktes bestelle ich mir einen Wrap und bezahle zwei. Als ich den Verkäufer auf den Irrtum aufmerksam mache, ist es zu spät und meine Kreditkarte bereits belastet. Bar kann er mir das zu viel abgebuchte Geld nicht auszahlen, sagt er. Angeblich wird der Supermarkt mir das Geld aber anstandslos zurücküberweisen. Hm. Ich quatsche noch kurz mit einem Kerl meines Alters, der seit Monaten mit seinem Fahrrad durch die USA reist und nun einen Job im Nationalpark angenommen hat. Er empfiehlt mir, den Bright Angel Trail oder den Hermit Trail hinabzusteigen. Für Ersteren werde ich auf keinen Fall genügend Zeit haben. Der Pfad führt zum Colorado River, eine Strecke, für die ich ja bekanntlich einen kompletten Tag bräuchte. Außerdem habe ich mich nun zur Genüge rund um den Trail bewegt – wenn auch viele Hundert Meter weiter oben. Der Trail sieht auf jeden Fall sehr cool aus. Im Zickzackkurs schlängelt er sich in die Schlucht, wird dann gerade und führt zu einem Plateau, von wo aus man einen sicherlich beeindruckenden Blick auf den Fluss hat. Bis zum Plateau sind es 19,6 Kilometer, die ich komplett vom Rand des Canyons aus überblicken kann. Wahnsinn. Ein weiteres Schild warnt erneut davor, das Plateau an nur einem Tag erreichen zu wollen. Auf der Tafel wird auch darauf hingewiesen, dass alljährlich Wanderer ihre Fähigkeiten überschätzen und krank werden oder bei ihrem Abenteuer gar sterben.
Trotz des Reizes des Bright Angel Trail denke ich, dass es besser ist, den Hermit Trail zu erkunden. Der Pfad beginnt am westlichsten Punkt des mit dem Auto erreichbaren Teils des South Rim. So weit gen Westen bin ich noch gar nicht vorgestoßen. Die Gegend ist mir demnach noch völlig unbekannt. Darüber hinaus favorisiert meine kurze Bekanntschaft vom Deli sogar diesen Pfad. Somit wäre das entschieden.
Auf der Hermits Road, auf der es derzeit keinen Shuttleservice gibt, entdecke ich zwischen den Aussichtspunkten Mohave Point und Pima Point ein kleines Tier auf der Straße. Zunächst halte ich es für ein Vögelchen, da es höchstens zehn bis 15 Zentimeter groß und total dünn ist. Als ich mich mit dem Wagen nähere, erkenne ich aber, dass es sich um ein Nagetier handelt. Ich glaube es ist ein Antilopenziesel, ein Erdhörnchen. Süß.
Je weiter ich nach Westen komme, desto besser und schöner wird der Ausblick auf den Colorado River. Oh, hätte ich doch nur mehr Zeit! Wie gerne würde ich mir diese Landschaft noch länger gönnen. Doch morgen muss der Mietwagen wieder in Las Vegas abgegeben werden und ich muss langsam aber sicher wieder in Richtung Los Angeles, um mit Chris am Drehbuch zu arbeiten.
Als ich dieses Zitat lese, stehe ich am Pima Point. Ich habe von Geologie keine Ahnung. Die Verfärbungen der Steine, speziell hier, lassen aber selbst dem absoluten Laien die verschiedenen Epochen unserer Erde leicht sichtbar werden. Das nenne ich einmal spannendes Lernen. Powells Zitat gefällt mir jetzt noch besser.
Drei Schilder bilden den Auftakt zum Pfad. Auf den ersten beiden wird an ein vorsichtiges Verhalten appelliert und der Aufbau des Trails erklärt: Nach 12,6 Kilometern erreicht man das historische Camp und nach 14,3 Kilometern den Fluss. Zwischendurch kann man auch auf diverse Nebenpfade wechseln. Allzu ausgiebig studiere ich das Schild nicht. Ich will nur ein wenig nach unten spazieren und werde rechtzeitig umkehren, um vor Einbruch der Dunkelheit wieder oben anzukommen. Die Tafel erinnert auch daran, dass bergauf Wandern anstrengender und zeitintensiver ist als der Abstieg. Außerdem soll man Wanderungen bei großer Hitze vermeiden, nicht abstürzen, genügend Essen und Trinken mitnehmen, Haustiere und Fahrräder oben lassen und auf keinen Fall alleine wandern. Ja, warm ist’s heute nicht. Die zweite Tafel ist wesentlich fieser: »Could You Run the Boston Marathon?«
Ich wundere mich kurz, wieso man hier eine Werbetafel aufstellt und will schon weitergehen, als mich doch noch die Neugierde packt. Auf dem Plakat, das man hinter Glas auf die Pinnwand gesteckt hat, wird die Geschichte der 24-jährigen Margaret Bradley erzählt.
Das beklemmende Gefühl, das ich nach dem Lesen dieses Plakats verspüre, verdränge ich dennoch recht schnell wieder. Schließlich plane ich eine simple und – tageszeitbedingt – leider auch nur recht kurze Wanderung, die mich auf demselben Weg wieder aus dem Canyon hinausführen wird. Verirren dürfte also eher schwer werden und dehydrieren werde ich sicherlich nicht – eher in der Nacht erfrieren.
Der Hermit Trail ist schon zu Beginn unfassbar schön. Ich verliere aufgrund der Schönheit aber auch sehr schnell meinen zeitlichen Orientierungssinn. So kann’s also doch passieren. Als ich nach oben blicke, bin ich überrascht, wie tief ich doch schon in den Canyon hineinspaziert bin. Auch die Soundkulisse ist wegen des durch die Felsen pfeifenden Windes eindrucksvoll. Die Aussicht sowieso. Ich ärgere mich, dass ich nicht viel früher den Abstieg angegangen bin. Vielleicht ist es aber auch gut so, da ich am Ende nicht mehr hätte umdrehen, sondern immer tiefer gehen wollen. Im Übrigen bin ich mal wieder komplett alleine. Auf dem Parkplatz am Trailhead steht außer meinem Wagen nur noch ein Jeep, dessen Insassen mir direkt am Beginn des Trampelpfads, keine halbe Minute nach Wanderungsbeginn, bereits entgegenkommen sind.
»How much longer did it take to hike uphill?«, habe ich die drei mit den roten Köpfen gefragt.
»About twice as long as downhill«, lautete die Antwort, die ich auch auf dem Plakat von Margaret Bradley gelesen hatte. Dann wird’s wohl stimmen und ich werde deshalb nicht länger als 45 Minuten nach unten marschieren können. Ähm, stimmt die Rechnung? Ich rechne noch einmal nach: Es war Viertel vor vier, als ich losgelaufen bin. Jetzt bin ich seit … ah, was für eine Aussicht!
Das Wetter im Canyon ist wirklich ungewöhnlich. Von der Bergkante aus konnte ich schon mehrere unterschiedliche Wetterbegebenheiten in der Schlucht bewundern. Im Canyon selbst sorgt der Wind für das große Spektakel: Geht man einmal um eine Ecke, wird man vom ziemlich krassen Luftzug fast weggeweht. Die Wolken ziehen in einer abartig schnellen Geschwindigkeit am Himmel entlang. Zwischendurch nieselt oder schüttet es sogar mal ganz kurz. Dann hört der Spaß wieder auf, ich stehe in der Sonne und es ist knackig warm – obwohl es Winter ist. Die Wettervorhersage für die Nacht liegt übrigens bei -5 °C. Tagsüber sollte es nicht wärmer als 4 bis 5 °C werden, mit einer sogar noch niedriger gefühlten Temperatur. Ich glaube indes, dass es weder so kalt ist noch dass es sich so kalt anfühlt. Wenn ich mir den Canyon und sein Wetter so ansehe, kommt es mir eher vor, als sei eine Vorhersage ähnlich einer Lotterie. In Flagstaff sagte mir die Rezeptionistin bereits, dass man das Wetter hier nur schwer korrekt vorhersagen könne. Überrascht mich wirklich nicht. Als wesentlich überraschender empfinde ich die Tatsache, dass es hier unten kein Echo gibt. Ich pfeife ein paar Mal laut: nichts. Verrückt. Je tiefer ich in die Schlucht vorstoße, desto wärmer wird es. Das hatte ich auch bei der Wettervorhersage gesehen: Unten ist es immer 5 bis 10 °C wärmer als oben, was ich hiermit bestätigen kann – speziell, als ich auf einer sehr schrägen Felsplatte ein Sonnenbad genieße. Dieser gemütliche Fels ist auch mein Umkehrpunkt. Nachdem ich mich mehrfach selbst dazu überredet habe noch bis zu dieser Kurve oder zu jenem verdörrten Baum zu marschieren, beschließe ich nun wirklich die Rückkehr. Wie es Menschen trotz mieser Vorbereitung immer tiefer in das gigantische Loch treibt, kann ich bestens nachvollziehen. Wie schon im Yosemite National Park, entwickelt sich in meinem Hirn eine Art Wanderungs- und Entdeckungsrausch.
Nach einer dreiviertel Stunde des Abstiegs mache ich mich an den voraussichtlich 90-minütigen Aufstieg. Es wäre dann 18 Uhr. Die Sonne geht eine knappe viertel Stunde zuvor unter. Mal gucken, ob ich in die Dunkelheit gerate. Vielleicht treffe ich dabei ja einen Berglöwen?
Puh. Man darf nicht vergessen, was ich vergessen habe: Der Grand Canyon befindet sich in einer nicht zu verachtenden Höhe. Ich laufe seit zehn Minuten wieder bergauf und schnaufe wie ein fettes Gänschen. Uff. Das mit den 90 Minuten könnte wahrscheinlich hinkommen. Oje. Could I run the Boston Marathon? Derzeit definitely not. Mittlerweile bin ich ziemlich froh, dass ich nicht schon viel früher in den Canyon hinabgestiegen bin. Wenn ich mir vorstelle, dass ich drei, vier Stunden oder noch länger hätte bergauf laufen müssen. Meine Fresse … Ich frage mich, wie die Leute das im Sommer machen?
Okay, nur die ersten zehn Minuten waren wirklich hart. Seit einigen Minuten geht es nicht mehr so steil hinauf und ich bin wieder entspannter. Ich glaube auch nicht mehr, dass ich tatsächlich 90 Minuten benötigen werde, um oben anzukommen. Auf dem Weg nach unten habe ich schließlich Fotos gemacht, was bestimmt fünf bis zehn Minuten, wahrscheinlich sogar noch mehr Zeit in Anspruch genommen hat.
Hm, entweder bin ich ein unglaubliches Tier, sportlich ohne Ende, ohne es zu wissen, oder das Adrenalin, das sich freigesetzt hat, als ich mir vorgestellt habe, in der Dunkelheit im stockfinsteren Canyon entlangspazieren zu müssen, hat mich angetrieben. Denn, überraschenderweise, komme ich bereits kurz vor fünf wieder am Trailhead an. Das ist doch wirklich schräg: Ich benötigte eine dreiviertel Stunde für den Weg nach unten und nur eine halbe für den Weg nach oben. Ich Meister aller Klassen!
Ich beginne zu überlegen, wo es wohl am besten wäre, um sich den Sonnenuntergang anzusehen. Ich denke, dass der Pima Point – der Aussichtspunkt direkt neben Hermits Rest – der magische Ort ist, als mir plötzlich ein Bus mit der Aufschrift »Sunset Tour« entgegenkommt und genau dorthin abbiegt. Na, das sieht also wahrhaftig gut und richtig aus. Ich folge dem Bus, um den Busfahrer zu fragen. Der Mann meint, dass Hopi und Mohave Point die beiden besten Aussichtspunkte für Sonnenuntergänge seien. Er zeigt auf die Wand, auf der sich der Mohave Point befindet. Die Aussicht soll von dort schöner sein, da er höher liegt als der Pima Point. Außerdem glaubt er, dass wir heute einen schönen Sonnenuntergang haben dürften, nachdem der gestrige aufgrund der Bewölkung und dem Nebel so katastrophal gewesen ist. Die armen Leute, die gestern hier waren. Ich hatte heute mal wieder Glück: Serendipity.
Auch auf die Gefahr hin, dass ich eine Standardphrase dieser Reise zum x-ten Mal wiederhole, muss ich nochmals anmerken, dass der Sonnenuntergang absolut wunderschön und episch ist. Alleine wegen dieser Sonnenuntergänge will ich dieses Land nicht mehr verlassen. Cari sagt, dass Arizonas Sonnenuntergänge für ihre Schönheit berühmt seien. Glaube ich ihr sofort.
Dafür ist der Wind nun bitterkalt. Das ist untertrieben: Er ist arschkalt! Da will man nicht allzu lange im Freien sein. Demnach fliehe ich wie die anderen wenigen Sonnenuntergangsanbeter um mich herum schnell wieder ins Auto und genieße – nachdem ich am Mohave und danach auch am Hopi Point genügend Fotos gemacht habe – für die restliche und erstaunlich lange Show den Schutz des Autos. Der Sternenhimmel und die Milchstraße sollen über dem Grand Canyon toll sein. Also warte ich … und warte … und warte. Die Sonne geht mittlerweile seit einer Stunde unter. Gut, es ist dunkel, am Horizont sieht man sie aber noch immer. Dementsprechend sind die Sterne noch nicht wirklich sichtbar. Es muss wieder an der Höhenlage liegen, dass der Sonnenuntergang wesentlich länger dauert als an der Küste. Ich bin wieder einmal beeindruckt, muss aber auch mit dem Rechnen anfangen: Ich benötige gut 90 Minuten, um wieder nach Flagstaff zu kommen – und ich habe Hunger wie Sau! Also beschließe ich doch früher zu fahren, bevor das leckere Thai-Restaurant schließt. Darauf habe ich nämlich jetzt noch mehr Lust als auf einen grandiosen Sternenhimmel. Ich habe auf meiner Reise ja auch schon so manch wunderschönen Sternenhimmel gesehen. Ich werde es verkraften.
Ich verlasse den Nationalpark und fahre wenig später durch finsterste Dunkelheit. Lichtverschmutzung gibt es rund um den Canyon wirklich keine. Verkehr genauso wenig, weshalb ich während der Fahrt problemlos die Sterne und den vollen Mond am Himmel genießen kann. Seitdem ich in Amerika bin, hatte ich bereits zwei-, dreimal den Mond mit beeindruckender Korona gesehen. Jetzt aber setzt der Mond von Arizona noch mal einen drauf: Dumm guckend fahre ich unter einem Mond daher, um den sich ein Ring spannt, der sämtliche Farben des Regenbogens abdeckt! Was zum …? So etwas habe ich noch nie gesehen. Ein kreisrunder Regenbogen, der sich wie zu groß geratene Saturnringe um den Mond spannt. Wunderschön.
Nicht nur der Einsamkeit der ewig geraden Straße, sondern auch der Cruise Control habe ich es zu verdanken, dass ich während der Fahrt meine Stinkefüße aus dem Fenster halten, und so etwas Luft an sie heranlassen kann. Wunderbar … und bitter notwendig. Würg.
Ich wohne nicht mehr im Hostel! Rachel und Lucas sind wieder aus Phoenix zurück und laden mich zu sich ein. Ich bin nach meiner taglangen Wanderung und dem Essen ganz schön müde, schraube die Rückenlehne des Fahrersitzes in eine angenehme Liegeposition und mache ein kurzes Verdauungsnickerchen. Dass ich einschlafe, war, nachdem ich mit Lucas abgeklärt habe, wie ich zu ihnen komme, eigentlich nicht geplant. Ups. Als ich wieder wach werde, stelle ich erleichtert fest, dass es nicht bereits drei Uhr nachts ist, und düse los in die North San Francisco Street. Ja, Rachel und Lucas wohnen tatsächlich nur fünf Minuten von der Historic Downtown entfernt, in der nördlichen Fortführung derselben Straße, in der sich auch das Hostel befindet. Lucas öffnet mir die Tür. Drei Wochen nachdem wir uns zum ersten und bislang einzigen Mal gesehen haben, sehen wir uns nun also 1000 Kilometer weiter westlich wieder. Das ist durchaus ulkig und ich bin dem sympathischen Pärchen wirklich sehr dankbar. Lucas hat vier Mitbewohner: drei Jungs und ein Mädel. Rachel wohnt nicht in dem Haus, das auch als das »Frisbee House« bekannt sein soll, da darin ständig Frisbeespieler wohnten und wohnen als auch in Zukunft an Frisbeespieler weitergegeben werden soll. Da ich nach wie vor nicht verstehe, was es mit dieser Frisbeepassion auf sich hat, lasse ich mir nach der herzlichen Begrüßung von Lucas und Rachel erklären, was Ultimate Frisbee ist.
Rachel, Lucas und die restlichen Bewohner scheinen wahrlich große Fans ihres Sports zu sein, denn überall an den Wänden hängen die runden Scheiben. Das Frisbeeturnier, zu dem Rachel, Lucas und wohl auch alle anderen Frisbeespieler Flagstaffs nach Phoenix gereist sind, ist im wahrsten Sinne des Wortes ins Wasser gefallen. Stattdessen wurde ordentlich gefeiert. Die Reise wird also keineswegs bedauert.
Mitbewohner Adam gesellt sich zu uns. Ich mag den großen Kerl mit der sich andeutenden Platte auf dem Schädel, den intensiven Augen und dem Vollbart von Anfang an. Wir kommen sofort ins Gespräch. Zunächst erzähle ich von meinem Tag am Grand Canyon, woraufhin er mir von seinen Erlebnissen dort berichtet. Er erzählt von einem Dorf von Native Americans im Canyon, das man nur nach einem neun Stunden dauernden Hike erreichen kann. Das von der Außenwelt komplett abgeschottete Dorf sei paradiesisch, meint er. Alternative Möglichkeiten, um dorthin zu gelangen, seien lediglich der Helikopter oder ein Eselsritt. Ich erzähle von Margaret Bradleys Schicksal im Canyon, was bei Adam Erinnerungen an ein selbst erlebtes Abenteuer in Alaska weckt: Gemeinsam mit Freunden wanderte er durch den am dünnsten besiedelten Bundesstaat, um zum legendären Bus von Chris McCandless alias »Alexander Supertramp« zu gelangen, der durch das Buch und Sean Penns Film »Into the Wild« zur weltberühmten Aussteigerkultfigur wurde. Als Gruppe haben sie den Fluss, den Chris nicht bewältigen konnte, überquert. Das Durchwaten des Flusses sei nur gemeinsam und mithilfe der »Schlangentechnik« möglich gewesen: Hierfür hält sich jeder am Rucksack oder Rücken des Vordermanns fest, sodass sich der Tross wie eine Schlange langsam, Schritt für Schritt durchs kalte Wasser ziehen kann. Laut Adam war diese Aktion ziemlich hart und gefährlich. Es folgt die Geschichte, bei der sich Adam, Lucas und sieben weitere Freunde einst bei einem Hike in Utah verliefen. Die einzige Chance der Natur zu entfliehen, berichten die beiden dramatisch, war es, den Sternen nach Westen zu folgen, weil dort irgendwo die Straße sein musste. Adam war der Einzige, der wohl durchgehend cool geblieben ist. Lucas gibt zu ein bisschen Panik geschoben zu haben, besteht aber darauf, dass die anderen wesentlich verzweifelter waren. Nach kurzer Diskussion stimmt Adam ihm zu, während Rachel die Story mit weit geöffnetem Mund und Kopfschütteln zum ersten Mal hört und ungläubig verdaut: »Why did you never tell me about that?«, fragt sie ihren Freund fassungslos.
Der aus Jerusalem stammende Adam repariert und verkauft Fahrräder und bereits seit Kindheitstagen Trödel und Sammlerobjekte. Er erzählt stolz von einer wunderschönen Säge, die er entdeckt hat. Riesengroß sei diese und vermutlich aus dem 19. Jahrhundert. Da hat jemand eine echte Leidenschaft entwickelt.
Man erzählt mir, dass es nahe Flagstaff ein Skigebiet gibt. Mir sind zuvor schon die Skiverleihe in der Stadt aufgefallen. An diesem Wochenende wurden aufgrund fehlender Skitouristen Skipässe samt Ausrüstung und Transport für einen Dollar angeboten! What? Hätte ich das mal früher gewusst … und ein, zwei Tage mehr zur Verfügung. Der Abend im »Frisbee House« ist wirklich cool. Ich fühle mich in dieser WG nicht wie der Fremde, der zu Besuch ist, sondern vielmehr wie ein alter Freund, den man länger nicht gesehen hat und mit dem man nun die neuesten Geschichten seit dem letzten Wiedersehen austauscht. Wir starten noch eine philosophische Diskussion übers Sterben, bevor sich Adam verabschiedet und Lucas und Rachel mir offenbaren, dass sie sich unbedingt eine Folge »Game of Thrones« ansehen müssen. Kaum läuft die Serie trete ich meine letzte Wanderung für heute an. Nach einem großartigen Tag geht es ins Tal der Träume …