Tag 79: Der Grand Canyon – das grĂ¶ĂŸte GemĂ€lde der Welt

Serendipity – Teil 2

2013 01 27 12.31.57

Sonntag, 27. Januar 2013
Flagstaff – Grand Canyon (South Rim) – Flagstaff

Seite 1Seite 2Seite 3Seite 4Seite 5Seite 6Seite 7Seite 8

Als ich aufwache, regnet es noch immer. Verdammt.
Die KĂŒche des Hostels ist genauso niedlich rudimentĂ€r und familiĂ€r wie mein Schlafzimmer. An einem großen Tisch frĂŒhstĂŒcke ich mit einer Italienerin, ihrem britisch-kanadisch-italienischem Partner und einem Romand mit chilenischen Wurzeln. Es gibt Oatmeal und die ĂŒblichen Konversationen, die HostelgĂ€ste am frĂŒhen Morgen so fĂŒhren: Es geht um die Herkunft, darum, wo man schon alles war, wie lange man reist und so weiter. Kurz darauf schlĂŒpfe ich in meine von gestern noch vollkommen verdreckten und stinkigen Schuhe. Ich hatte keine Ahnung, wie ich die hĂ€tte sĂ€ubern und bis heute wieder trocken bekommen sollen. Meinen Mantel hatte ich ĂŒber Nacht in den Heizkörper der Lobby gestopft, was dennoch nicht vollkommen ausgereicht hat. So viel Wasser wie gestern habe ich selten in meinem Leben aufgesogen.

Ich schwinge mich ins Auto und dĂŒse den Highway 180 fĂŒr 130 Kilometer in Richtung Norden. Der Weg ist wie immer total einfach: geradeaus, geradeaus, geradeaus. Irgendwann mal nach rechts â€“ spĂ€testens da weisen aber auch Schilder auf den Canyon hin â€“ und schon ist man da. Wie ĂŒblich ist die Strecke aber keineswegs langweilig. Die Landschaft ist bewaldet, bei Flagstaff zudem noch unter einer weißen Schneeschicht. Je nĂ€her ich dem Canyon komme, desto weniger verschneit ist der Boden und â€“ vermutlich wichtiger â€“ desto weniger Wolken nehmen den Himmel ein. Das Wetter wird also besser und besser, farbenintensive Regenbogen schmĂŒcken das Firmament und am Ziel ist der Regen sogar gĂ€nzlich verschwunden. Yes!

Der Eintritt mit eigenem Auto kostet 25 Dollar und gilt fĂŒr eine komplette Woche. FußgĂ€nger und Radfahrer bekommen bereits fĂŒr zwölf Dollar einen Wochenpass. Ich lenke den Wagen zum recht leeren Parkplatz des visitor center. Meine Eltern haben den Canyon vor einigen Jahren besucht und waren begeistert. Immer wieder erzĂ€hlten sie mir, dass der Anblick nicht nur vollkommen ĂŒberwĂ€ltigend, sondern auch absolut irreal anmutet.
»Hollywood spielt uns einen Streich«, war ein Satz, den meine Mutter regelmĂ€ĂŸig zur Verbildlichung benutzte: der Canyon ein matte painting und kein Naturereignis. Solche Beschreibungen machen neugierig. Ich will daher die volle Wucht des »giant hole« â€“ wie Cari den Grand Canyon nennt â€“ erleben und bewege mich mit gesenktem Kopf und den Blick auf meine FĂŒĂŸe fixiert auf die Kante des Canyons zu. Als ich das GelĂ€nder erreiche, hebe ich meinen Blick und â€Š bin ĂŒberwĂ€ltigt. Das ist schlichtweg unmöglich! Vor mir tut sich ein Loch auf, dessen GrĂ¶ĂŸe und Tiefe ich absolut nicht einschĂ€tzen kann. Und die Landschaft sieht wahrhaftig wie ein GemĂ€lde aus. Ein GemĂ€lde, das so nah erscheint, als könne man es anfassen. Streckt man seine Hand danach aus, ist es dann aber doch unbeschreiblich weit weg. Es ist die natĂŒrlichste ReizĂŒberflutung, die ich je erlebt habe.

Weiter geht’s auf Seite 2

Der Grand Canyon in Zahlen
Die am Eingang erhaltene Zeitung und Karte geben Aufschluss ĂŒber die Ausmaße dieses PhĂ€nomens: Ich befinde mich am South Rim, der sĂŒdlichen Kante des Canyons. Die nördliche Kante ist an meiner aktuellen Position knappe 16 Kilometer Luftlinie vom South Rim entfernt. Um mit dem Auto dort hinzugelangen, muss man allerdings einen 356 Kilometer langen Weg entlang des östlichen Rands auf sich nehmen. Eine Wanderung durch die Schlucht ist rund 40 Kilometer lang. Durch das gigantische Loch ziehen sich noch unzĂ€hlige weitere Canyons. Außerdem durchfließt ihn der insgesamt 2330 Kilometer lange Colorado River, der sich in Millionen von Jahren auf seinem Weg von den Rocky Mountains zum Golf von Kalifornien in Mexiko durch das Gestein des Colorado-Plateaus gegraben und dem Canyon eine LĂ€nge von abartigen 446 Kilometern gegeben hat. Um dies mit deutschen Strecken zu vergleichen: Ich stehe vor einem Loch, das von Hamburg bis Bonn reichen wĂŒrde! Erstaunlicherweise stellt der Grand Canyon im weltweiten Vergleich aber keine Rekorde auf. Er ist weder der grĂ¶ĂŸte noch der tiefste Canyon unseres Planeten. Da seine SteilwĂ€nde aber so wenig, nahezu ĂŒberhaupt nicht bewachsen sind, kann man in ihm wie nirgendwo sonst die geologische Geschichte der Erde erleben, die einem wie eine natĂŒrliche Zeitleiste im Gestein prĂ€sentiert wird.
Bevor ich von diesen Fakten und Zahlen wusste, machte ich mir noch Gedanken, ob ich zum South Rim oder zum North Rim fahren soll. Die Entscheidung zugunsten der sĂŒdlichen Kante kam vielmehr dadurch zustande, dass das North Rim im Winter geschlossen ist. Das South Rim liegt in knapp 2100 Metern Höhe. Dass ich mich so weit oben befinde, habe ich ĂŒbrigens nicht bemerkt. Der Weg vom in gleichen Höhen gelegenen Flagstaff hierher fĂ€llt eher flach aus. Das North Rim liegt rund 300 Meter höher und die Temperaturen rund 6 Â°C niedriger. Im Sommer betrĂ€gt die Temperatur an der SĂŒdkante 10 bis 30 Â°C, im Winter liegt sie bei -7 bis 10 Â°C. Nun ist der Canyon aber nicht nur lang und breit, sondern auch tief.

Die Mission des GarcĂ­a LĂłpez de CĂĄrdenas
Der Anblick ist so erhaben, dass es kein Wunder ist, dass die ĂŒber Jahrtausende hier lebenden indigenen Völker den Grand Canyon als PilgerstĂ€tte ehrten. Wie muss sich der spanische Konquistador GarcĂ­a LĂłpez de CĂĄrdenas gefĂŒhlt haben, als er mit seinen Mannen um 1540 plötzlich vor diesem Naturwunder stand? Nach einiger Zeit dĂŒrfte er auf jeden Fall ziemlich genervt gewesen sein: Sein Auftrag war es, einen großen Fluss zu finden, von dem die Ureinwohner erzĂ€hlt hatten. Den Fluss fand er. Allerdings glaubte er nicht, dass das Rinnsal, das er von der SĂŒdkante aus erblickte, tatsĂ€chlich ein großer Fluss sein sollte. Der FĂŒhrer, den die Hopi ihnen mitgegeben hatten, versicherte den europĂ€ischen Soldaten, dass es sich bei dem GewĂ€sser nicht um einen Bach, sondern um einen mĂ€chtigen Fluss handele. Ich kann die Zweifel der Spanier verstehen. Auch ich sehe den Fluss und kann den Texten auf den Tafeln, die den Wanderweg sĂ€umen, auch nur mit einem vor Erstaunen geöffneten Mund folgen: Der Fluss, der wahrlich nicht groß aussieht, befindet sich rund vier Kilometer Luftlinie nördlich und eineinhalb Kilometer unter mir. Nach drei Tagen intensiver Suche hatten die Eroberer noch immer keinen Weg in den Canyon gefunden. Die HĂ€nge des South Rim sind einfach zu steil! Drei Mutige wagten schließlich den Abstieg, mussten aber nach einigen Stunden wieder umkehren, da der Weg hinab immer steiler und das Wasser immer knapper wurde. Es sollte 200 Jahre dauern, bis sich wieder ein EuropĂ€er zum »giant hole« verirrte.

Weiter geht’s auf Seite 3

Ich spaziere staunend die Kante entlang. Durch den Regen der letzten Tage strahlen die unterschiedlichen Farben der Sedimentschichten noch stĂ€rker als an trockenen Tagen, höre ich einen Ranger einer Touristengruppe erklĂ€ren. Jeder Farbunterschied in den Felsen steht fĂŒr eine andere Epoche der Erdgeschichte. Wir blicken also zurĂŒck in die tiefste Vergangenheit unseres Planeten. Eine Ehrfurcht erweckende Vorstellung, die durch Regenbogen an Dramatik verliert und an Schönheit gewinnt.
»Double rainbow«, höre ich mich mehrfach grinsend flĂŒstern und schĂŒttele freudig und unglĂ€ubig meinen Kopf. Ich weiß nicht, ob ich jemals so viele Regenbogen gesehen habe, die sich dann auch noch teilweise ĂŒbereinander spannen. Ganz sicher bin ich mir aber, dass ich noch nie welche unter mir gesehen habe. Was ist das nur fĂŒr ein magischer Ort? Double rainbow â€Š

Video


Weiter geht’s auf Seite 4

Die Sicherheitsvorkehrungen sind, wie schon in Sedona und im Yosemite National Park, erfreulich unvorhanden. ZĂ€une gibt es wenige und die wenigen MĂ€uerchen sind einfach zu ĂŒberwinden. Schilder, die einem den Zugang zu den Kanten verbieten, gibt es keine, höchstens welche, die darauf hinweisen, dass man abstĂŒrzen könnte. Dementsprechend tummeln sich die Besucher des Canyons auf den VorsprĂŒngen und fotografieren sich gegenseitig an gefĂ€hrlich anmutenden Positionen. Ich habe keine Ahnung, ob das Fehlen von Schildern zu mehr UnfĂ€llen fĂŒhrt, aber auf jeden Fall wird die Landschaft nicht verschandelt. Die Schilder, die man aufgestellt hat, sind indes wirklich interessant. So bekomme ich die Namen der einzelnen Felsformationen samt ihrer Entfernung zu meinem Standort und ihre Höhenlage genannt. Mein Spaziergang vom Mather Point zum Yavapai Point in Richtung Westen wird durch die Zahlen noch eindrucksvoller.

Am Yavapai Point gibt es eine observation station, ein HĂ€uschen, in welchem dem geneigten Besucher die verschiedenen geologischen Gegebenheiten erklĂ€rt werden. Da ich weniger studieren als vielmehr entdecken möchte, halte ich mich nicht allzu lange im fraglos interessanten Yavapai Point Trailside Museum auf. Ich lese aber beispielsweise genug, um zu erfahren, dass der Colorado River seinen Namen 1776 vom spanischen Missionar Fray Francisco Garces aufgrund seiner roten Farbe erhalten hat. Ich erfahre, dass die klitzeklein anmutende Kaibab Bridge, die ich von hier aus sich ĂŒber dem Fluss spannen sehe, ĂŒber 130 Meter lang ist und dass es einen kompletten Tag dauert, um zum Colorado River zu wandern. Einen kompletten Tag? Bis zum Fluss sind es 16 Kilometer Weg. Bis zum North Rim sind es dann weitere 22,5 Kilometer, fĂŒr die der durchschnittliche Wanderer einen bis zwei weitere Tage benötigt. Ich sehe im Laufe des Tages auch mehrere Schilder, die vor der leichtsinnigen Idee warnen, den Weg zum Fluss und wieder zurĂŒck an nur einem Tag meistern zu wollen. Das ist doch unfassbar! Ich habe in meinem Leben den einen oder anderen Urlaub in den Bergen gemacht. Allerdings hatte ich nie das GefĂŒhl, dass ein so nah erscheinender Ort so weit weg ist. In den Grand Canyon hineinzuspazieren und dann in einem riesigen WĂŒstenloch umherzurennen ist zudem noch einmal ein anderes Gefahrenkaliber, als in Bayern von Gunzesried nach Oberstdorf zu wandern. Da das EinschĂ€tzen von Entfernungen so schwer ist, wĂŒrde ich das riesige Loch sowieso eher mit dem Meer als mit dem Gebirge vergleichen. Schließlich geht es von meinem Standpunkt aus ja auch nach unten und nicht nach oben. Als habe man dem Bodensee den Stöpsel gezogen. Apropos Wasser: Will man den Colorado River vom östlichen Beginn des Canyons bis zu seinem westlichen Austritt mit einem Ruderboot entlangtuckern, benötigt man zwei bis drei Wochen. Mit einem Motorboot ist man in sieben bis zehn Tagen durch.

Ich sehe recht weit entfernt einen Vogel durch den Canyon fliegen. Einen weißen Vogel. Moment mal â€Š Wie weit ist der Vogel denn von mir entfernt? Wie groß ist das Vieh? Ich nehme die Objektivkappe von meiner Kamera und zoome das UFO heran. Das gibt’s doch nicht: Der Vogel ist tatsĂ€chlich ein Helikopter! Der Hubschrauber ist so weit entfernt, dass man nichts von ihm hört. Ohne den Zoom hĂ€tte ich ihn auch niemals als das, was er ist, identifizieren können. Und ich habe sehr gute Augen. Unglaublich.

Meine GĂŒte: Ich bin schon seit ĂŒber zwei Stunden unterwegs und habe â€“ wenn ich mir so die Landkarte ansehe â€“ noch gar nichts vom Canyon gesehen. Ich bin gerade einmal etwas mehr als einen Kilometer weit gekommen! Wieder im Freien bleibe ich dennoch nur wenige Meter spĂ€ter erneut an einer Informationstafel hĂ€ngen: Im Winter kann man aufgrund der geringeren Luftverschmutzung â€“ eine der geringsten in den USA â€“ zwischen 210 und 400 Kilometer weit blicken. Ein menschliches Auge kann 400 Kilometer weit blicken? Okay, doofe Frage. Im Sommer beschrĂ€nkt sich die Aussicht auf durchschnittliche 152 Kilometer. Als Beispiel fĂŒr die aktuelle Sicht dient auf der Tafel Mount Trumbull, ein Berg, der 100 Kilometer Luftlinie von meiner aktuellen Position entfernt liegt. Ich schaue in Richtung Westen und erkenne in der Tat klar und deutlich den 2,4 Kilometer hohen Berg. Verstehe ich das richtig und der 100 Kilometer entfernte Berg ist gerade einmal 300 Meter höher als der Flecken, an dem ich momentan stehe? Und da kann ich ihn sehen? Mir geht’s bei jeder zweiten Information, die ich wissbegierig aufsauge, wie meinen Eltern: Da will mich doch wer verarschen? Unser Planet und der menschliche Körper faszinieren mich heute wahrlich sehr. Was ein Spaziergang an einer riesigen Schlucht so alles bewirken kann: großartig!

Ich beschließe, mit dem kostenlosen Shuttlebus zurĂŒck zum Parkplatz zu fahren und mein Auto abzuholen. Die auf der Karte eingezeichneten Aussichtspunkte sind allesamt recht weit voneinander entfernt und der Shuttlebus kann einen durchaus warten lassen. Auf dem westlichsten TeilstĂŒck des befahrbaren South Rim, der Hermits Road, operiert der Bus zudem von Anfang Dezember bis Ende Februar ĂŒberhaupt nicht. Der Zugang mit dem eigenen Fahrzeug ist gestattet. Ja, und wozu habe ich auch schließlich das Auto? Die Zeit verfliegt â€“ mittlerweile ist es schon ĂŒber drei Stunden her, dass ich den Nationalpark betreten habe â€“ und ich möchte so viel wie möglich vom Canyon sehen. Am liebsten wĂŒrde ich auch in ihn hinabsteigen. Ob dafĂŒr die Zeit ausreicht? Ich bin mir jetzt bereits sicher, dass ein Tag zu wenig ist, um den Grand Canyon auch nur ansatzweise zu erforschen. Nicht zum ersten Mal kommt es mir so vor, als ob meine drei Monate fĂŒr diese Reise zu kurz seien. Oje, bloß nicht wieder an das Ende der Reise denken. Keine zehn Tage mehr. Final countdown. Verdammt.

Weiter geht’s auf Seite 5

Ich fahre mit dem Auto die einzelnen Aussichtspunkte ab, staune und fotografiere. Ich erreiche das 1901 mit dem Eintreffen der Eisenbahn gegrĂŒndete Grand Canyon Village.

Grand Canyon Village
Im zentralen Ort des South Rim gibt es die grĂ¶ĂŸte Ansammlung an GasthĂ€usern und GeschĂ€ften sowie das 1905 eröffnete und sehr schön anzusehende Hopi House, in dem Kunst, Handwerk und Teppiche der Hopi verkauft werden. Im Village leben rund 2000 Menschen, die â€“ wenig verwunderlich â€“ grĂ¶ĂŸtenteils im Nationalpark oder den Hotels und Lodges beschĂ€ftigt sind. Schon wesentlich beeindruckender finde ich, dass immerhin noch rund 20 % der Bewohner amerikanische Ureinwohner sind.
Den noch sehr original aussehenden Bahnhof gibt es auch heute noch und ein Zug, auf dem groß »Grand Canyon« geschrieben steht, macht wahrhaftig etwas her.

Ich mache Halt auf der Market Plaza, einem Parkplatz, der von GeschĂ€ften umzingelt ist. Im Deli des Supermarktes bestelle ich mir einen Wrap und bezahle zwei. Als ich den VerkĂ€ufer auf den Irrtum aufmerksam mache, ist es zu spĂ€t und meine Kreditkarte bereits belastet. Bar kann er mir das zu viel abgebuchte Geld nicht auszahlen, sagt er. Angeblich wird der Supermarkt mir das Geld aber anstandslos zurĂŒckĂŒberweisen. Hm. Ich quatsche noch kurz mit einem Kerl meines Alters, der seit Monaten mit seinem Fahrrad durch die USA reist und nun einen Job im Nationalpark angenommen hat. Er empfiehlt mir, den Bright Angel Trail oder den Hermit Trail hinabzusteigen. FĂŒr Ersteren werde ich auf keinen Fall genĂŒgend Zeit haben. Der Pfad fĂŒhrt zum Colorado River, eine Strecke, fĂŒr die ich ja bekanntlich einen kompletten Tag brĂ€uchte. Außerdem habe ich mich nun zur GenĂŒge rund um den Trail bewegt â€“ wenn auch viele Hundert Meter weiter oben. Der Trail sieht auf jeden Fall sehr cool aus. Im Zickzackkurs schlĂ€ngelt er sich in die Schlucht, wird dann gerade und fĂŒhrt zu einem Plateau, von wo aus man einen sicherlich beeindruckenden Blick auf den Fluss hat. Bis zum Plateau sind es 19,6 Kilometer, die ich komplett vom Rand des Canyons aus ĂŒberblicken kann. Wahnsinn. Ein weiteres Schild warnt erneut davor, das Plateau an nur einem Tag erreichen zu wollen. Auf der Tafel wird auch darauf hingewiesen, dass alljĂ€hrlich Wanderer ihre FĂ€higkeiten ĂŒberschĂ€tzen und krank werden oder bei ihrem Abenteuer gar sterben.

Trotz des Reizes des Bright Angel Trail denke ich, dass es besser ist, den Hermit Trail zu erkunden. Der Pfad beginnt am westlichsten Punkt des mit dem Auto erreichbaren Teils des South Rim. So weit gen Westen bin ich noch gar nicht vorgestoßen. Die Gegend ist mir demnach noch völlig unbekannt. DarĂŒber hinaus favorisiert meine kurze Bekanntschaft vom Deli sogar diesen Pfad. Somit wĂ€re das entschieden.

Auf der Hermits Road, auf der es derzeit keinen Shuttleservice gibt, entdecke ich zwischen den Aussichtspunkten Mohave Point und Pima Point ein kleines Tier auf der Straße. ZunĂ€chst halte ich es fĂŒr ein Vögelchen, da es höchstens zehn bis 15 Zentimeter groß und total dĂŒnn ist. Als ich mich mit dem Wagen nĂ€here, erkenne ich aber, dass es sich um ein Nagetier handelt. Ich glaube es ist ein Antilopenziesel, ein Erdhörnchen. SĂŒĂŸ.
Je weiter ich nach Westen komme, desto besser und schöner wird der Ausblick auf den Colorado River. Oh, hĂ€tte ich doch nur mehr Zeit! Wie gerne wĂŒrde ich mir diese Landschaft noch lĂ€nger gönnen. Doch morgen muss der Mietwagen wieder in Las Vegas abgegeben werden und ich muss langsam aber sicher wieder in Richtung Los Angeles, um mit Chris am Drehbuch zu arbeiten.

John Wesley Powell und die Geschichte der Erde
John Wesley Powell, der wahre erste westliche Erkunder des Grand Canyon, nahm sich 1869 mehr Zeit: Gemeinsam mit neun MĂ€nnern schipperte er den Green und den Colorado River entlang. Nach fast drei Monaten und 1500 Kilometern erreichte er sein Ziel und hatte somit die erste bekannte Durchquerung des kompletten Grand Canyon unternommen. Zwei Jahre spĂ€ter wiederholte er den Trip, um die Gegend zu kartieren. Diese Expedition sollte eineinhalb Jahre dauern. Powell wurde aus wissenschaftlicheren GrĂŒnden als ich kleiner Romantiker angetrieben: FĂŒr ihn war der Grand Canyon ein offenes Buch, in dem die Geschichte der Erde niedergeschrieben steht: »The book is open and I can read as I run.«
Als ich dieses Zitat lese, stehe ich am Pima Point. Ich habe von Geologie keine Ahnung. Die VerfÀrbungen der Steine, speziell hier, lassen aber selbst dem absoluten Laien die verschiedenen Epochen unserer Erde leicht sichtbar werden. Das nenne ich einmal spannendes Lernen. Powells Zitat gefÀllt mir jetzt noch besser.

Weiter geht’s auf Seite 6

Ich erreiche Hermits Rest. Hier beginnt der Pfad in den Hermit Canyon.

Hermit Trail
Bereits 1911 wurde von der Santa Fe Railroad im Canyon ein Camp fĂŒr Touristen eingerichtet. Da sich der unweit des Bahnhofs beginnende Bright Angel Trail seinerzeit jedoch in Privatbesitz befand, mussten die Eisenbahner ihren eigenen Pfad, weit vom Bahnhof entfernt errichten, um Nutzungszöllen aus dem Weg zu gehen. Den einsamen Namen »Hermit«, was zu Deutsch Eremit heißt, hat diese Ecke des Canyons aber notabene nicht aufgrund seiner Abgeschiedenheit, sondern wegen des kanadischen Goldsuchers Louis Boucher, der 1891 fĂŒr mehrere Jahre alleine in der NĂ€he lebte und den ersten Pfad in den Canyon grub. Ein Soziopath soll der gute Louis wiederum nicht gewesen sein.

Drei Schilder bilden den Auftakt zum Pfad. Auf den ersten beiden wird an ein vorsichtiges Verhalten appelliert und der Aufbau des Trails erklĂ€rt: Nach 12,6 Kilometern erreicht man das historische Camp und nach 14,3 Kilometern den Fluss. Zwischendurch kann man auch auf diverse Nebenpfade wechseln. Allzu ausgiebig studiere ich das Schild nicht. Ich will nur ein wenig nach unten spazieren und werde rechtzeitig umkehren, um vor Einbruch der Dunkelheit wieder oben anzukommen. Die Tafel erinnert auch daran, dass bergauf Wandern anstrengender und zeitintensiver ist als der Abstieg. Außerdem soll man Wanderungen bei großer Hitze vermeiden, nicht abstĂŒrzen, genĂŒgend Essen und Trinken mitnehmen, Haustiere und FahrrĂ€der oben lassen und auf keinen Fall alleine wandern. Ja, warm ist’s heute nicht. Die zweite Tafel ist wesentlich fieser: »Could You Run the Boston Marathon?«
Ich wundere mich kurz, wieso man hier eine Werbetafel aufstellt und will schon weitergehen, als mich doch noch die Neugierde packt. Auf dem Plakat, das man hinter Glas auf die Pinnwand gesteckt hat, wird die Geschichte der 24-jÀhrigen Margaret Bradley erzÀhlt.

Margaret Bradley
Die junge Frau schaffte 2004 den Marathon in etwas mehr als drei Stunden. Drei Monate spĂ€ter machte sich die Sportlerin gemeinsam mit einem Freund auf den Weg in den Canyon. Die beiden planten einen 24 Kilometer langen Hike, den sie an einem Tag meistern wollten. Sie fĂŒhrten keine Karte mit sich und machten sich unbewusst auf einen Marsch, der 43 Kilometer in Anspruch nehmen sollte. An jenem Tag herrschten 41 Â°C im »Kochtopf« Grand Canyon. Bis auf eineinhalb Liter Wasser, zwei Energieriegel und einen Apfel hatten die beiden keine Lebensmittel bei sich. Am frĂŒhen Nachmittag erreichte die Hitze ihren Höhepunkt. Die beiden verbrauchten ihr letztes Wasser und gerieten in Stress. Margarets Partner war am Ende seiner KrĂ€fte. Tragischerweise entschieden sie sich, fortan getrennt voneinander nach Hilfe zu suchen. Margarets Kollege ruhte sich aus und schaffte es, den Canyon wieder zu verlassen, wĂ€hrend sie weiter in den Canyon vorstieß. Zwei Tage spĂ€ter fanden Parkranger ihre Leiche. Sie starb an Dehydrierung.

Das beklemmende GefĂŒhl, das ich nach dem Lesen dieses Plakats verspĂŒre, verdrĂ€nge ich dennoch recht schnell wieder. Schließlich plane ich eine simple und â€“ tageszeitbedingt â€“ leider auch nur recht kurze Wanderung, die mich auf demselben Weg wieder aus dem Canyon hinausfĂŒhren wird. Verirren dĂŒrfte also eher schwer werden und dehydrieren werde ich sicherlich nicht â€“ eher in der Nacht erfrieren.
Der Hermit Trail ist schon zu Beginn unfassbar schön. Ich verliere aufgrund der Schönheit aber auch sehr schnell meinen zeitlichen Orientierungssinn. So kann’s also doch passieren. Als ich nach oben blicke, bin ich ĂŒberrascht, wie tief ich doch schon in den Canyon hineinspaziert bin. Auch die Soundkulisse ist wegen des durch die Felsen pfeifenden Windes eindrucksvoll. Die Aussicht sowieso. Ich Ă€rgere mich, dass ich nicht viel frĂŒher den Abstieg angegangen bin. Vielleicht ist es aber auch gut so, da ich am Ende nicht mehr hĂ€tte umdrehen, sondern immer tiefer gehen wollen. Im Übrigen bin ich mal wieder komplett alleine. Auf dem Parkplatz am Trailhead steht außer meinem Wagen nur noch ein Jeep, dessen Insassen mir direkt am Beginn des Trampelpfads, keine halbe Minute nach Wanderungsbeginn, bereits entgegenkommen sind.
»How much longer did it take to hike uphill?«, habe ich die drei mit den roten Köpfen gefragt.
»About twice as long as downhill«, lautete die Antwort, die ich auch auf dem Plakat von Margaret Bradley gelesen hatte. Dann wird’s wohl stimmen und ich werde deshalb nicht lĂ€nger als 45 Minuten nach unten marschieren können. Ähm, stimmt die Rechnung? Ich rechne noch einmal nach: Es war Viertel vor vier, als ich losgelaufen bin. Jetzt bin ich seit â€ŠÂ ah, was fĂŒr eine Aussicht!
Das Wetter im Canyon ist wirklich ungewöhnlich. Von der Bergkante aus konnte ich schon mehrere unterschiedliche Wetterbegebenheiten in der Schlucht bewundern. Im Canyon selbst sorgt der Wind fĂŒr das große Spektakel: Geht man einmal um eine Ecke, wird man vom ziemlich krassen Luftzug fast weggeweht. Die Wolken ziehen in einer abartig schnellen Geschwindigkeit am Himmel entlang. Zwischendurch nieselt oder schĂŒttet es sogar mal ganz kurz. Dann hört der Spaß wieder auf, ich stehe in der Sonne und es ist knackig warm â€“ obwohl es Winter ist. Die Wettervorhersage fĂŒr die Nacht liegt ĂŒbrigens bei -5 Â°C. TagsĂŒber sollte es nicht wĂ€rmer als 4 bis 5 Â°C werden, mit einer sogar noch niedriger gefĂŒhlten Temperatur. Ich glaube indes, dass es weder so kalt ist noch dass es sich so kalt anfĂŒhlt. Wenn ich mir den Canyon und sein Wetter so ansehe, kommt es mir eher vor, als sei eine Vorhersage Ă€hnlich einer Lotterie. In Flagstaff sagte mir die Rezeptionistin bereits, dass man das Wetter hier nur schwer korrekt vorhersagen könne. Überrascht mich wirklich nicht. Als wesentlich ĂŒberraschender empfinde ich die Tatsache, dass es hier unten kein Echo gibt. Ich pfeife ein paar Mal laut: nichts. VerrĂŒckt. Je tiefer ich in die Schlucht vorstoße, desto wĂ€rmer wird es. Das hatte ich auch bei der Wettervorhersage gesehen: Unten ist es immer 5 bis 10 Â°C wĂ€rmer als oben, was ich hiermit bestĂ€tigen kann â€“ speziell, als ich auf einer sehr schrĂ€gen Felsplatte ein Sonnenbad genieße. Dieser gemĂŒtliche Fels ist auch mein Umkehrpunkt. Nachdem ich mich mehrfach selbst dazu ĂŒberredet habe noch bis zu dieser Kurve oder zu jenem verdörrten Baum zu marschieren, beschließe ich nun wirklich die RĂŒckkehr. Wie es Menschen trotz mieser Vorbereitung immer tiefer in das gigantische Loch treibt, kann ich bestens nachvollziehen. Wie schon im Yosemite National Park, entwickelt sich in meinem Hirn eine Art Wanderungs- und Entdeckungsrausch.

Nach einer dreiviertel Stunde des Abstiegs mache ich mich an den voraussichtlich 90-minĂŒtigen Aufstieg. Es wĂ€re dann 18 Uhr. Die Sonne geht eine knappe viertel Stunde zuvor unter. Mal gucken, ob ich in die Dunkelheit gerate. Vielleicht treffe ich dabei ja einen Berglöwen?
Puh. Man darf nicht vergessen, was ich vergessen habe: Der Grand Canyon befindet sich in einer nicht zu verachtenden Höhe. Ich laufe seit zehn Minuten wieder bergauf und schnaufe wie ein fettes GĂ€nschen. Uff. Das mit den 90 Minuten könnte wahrscheinlich hinkommen. Oje. Could I run the Boston Marathon? Derzeit definitely not. Mittlerweile bin ich ziemlich froh, dass ich nicht schon viel frĂŒher in den Canyon hinabgestiegen bin. Wenn ich mir vorstelle, dass ich drei, vier Stunden oder noch lĂ€nger hĂ€tte bergauf laufen mĂŒssen. Meine Fresse â€Š Ich frage mich, wie die Leute das im Sommer machen?
Okay, nur die ersten zehn Minuten waren wirklich hart. Seit einigen Minuten geht es nicht mehr so steil hinauf und ich bin wieder entspannter. Ich glaube auch nicht mehr, dass ich tatsĂ€chlich 90 Minuten benötigen werde, um oben anzukommen. Auf dem Weg nach unten habe ich schließlich Fotos gemacht, was bestimmt fĂŒnf bis zehn Minuten, wahrscheinlich sogar noch mehr Zeit in Anspruch genommen hat.
Hm, entweder bin ich ein unglaubliches Tier, sportlich ohne Ende, ohne es zu wissen, oder das Adrenalin, das sich freigesetzt hat, als ich mir vorgestellt habe, in der Dunkelheit im stockfinsteren Canyon entlangspazieren zu mĂŒssen, hat mich angetrieben. Denn, ĂŒberraschenderweise, komme ich bereits kurz vor fĂŒnf wieder am Trailhead an. Das ist doch wirklich schrĂ€g: Ich benötigte eine dreiviertel Stunde fĂŒr den Weg nach unten und nur eine halbe fĂŒr den Weg nach oben. Ich Meister aller Klassen!

Weiter geht’s auf Seite 7

Ich beginne zu ĂŒberlegen, wo es wohl am besten wĂ€re, um sich den Sonnenuntergang anzusehen. Ich denke, dass der Pima Point â€“ der Aussichtspunkt direkt neben Hermits Rest â€“ der magische Ort ist, als mir plötzlich ein Bus mit der Aufschrift »Sunset Tour« entgegenkommt und genau dorthin abbiegt. Na, das sieht also wahrhaftig gut und richtig aus. Ich folge dem Bus, um den Busfahrer zu fragen. Der Mann meint, dass Hopi und Mohave Point die beiden besten Aussichtspunkte fĂŒr SonnenuntergĂ€nge seien. Er zeigt auf die Wand, auf der sich der Mohave Point befindet. Die Aussicht soll von dort schöner sein, da er höher liegt als der Pima Point. Außerdem glaubt er, dass wir heute einen schönen Sonnenuntergang haben dĂŒrften, nachdem der gestrige aufgrund der Bewölkung und dem Nebel so katastrophal gewesen ist. Die armen Leute, die gestern hier waren. Ich hatte heute mal wieder GlĂŒck: Serendipity.
Auch auf die Gefahr hin, dass ich eine Standardphrase dieser Reise zum x-ten Mal wiederhole, muss ich nochmals anmerken, dass der Sonnenuntergang absolut wunderschön und episch ist. Alleine wegen dieser SonnenuntergĂ€nge will ich dieses Land nicht mehr verlassen. Cari sagt, dass Arizonas SonnenuntergĂ€nge fĂŒr ihre Schönheit berĂŒhmt seien. Glaube ich ihr sofort.

DafĂŒr ist der Wind nun bitterkalt. Das ist untertrieben: Er ist arschkalt! Da will man nicht allzu lange im Freien sein. Demnach fliehe ich wie die anderen wenigen Sonnenuntergangsanbeter um mich herum schnell wieder ins Auto und genieße â€“ nachdem ich am Mohave und danach auch am Hopi Point genĂŒgend Fotos gemacht habe â€“ fĂŒr die restliche und erstaunlich lange Show den Schutz des Autos. Der Sternenhimmel und die Milchstraße sollen ĂŒber dem Grand Canyon toll sein. Also warte ich â€Š und warte â€Š und warte. Die Sonne geht mittlerweile seit einer Stunde unter. Gut, es ist dunkel, am Horizont sieht man sie aber noch immer. Dementsprechend sind die Sterne noch nicht wirklich sichtbar. Es muss wieder an der Höhenlage liegen, dass der Sonnenuntergang wesentlich lĂ€nger dauert als an der KĂŒste. Ich bin wieder einmal beeindruckt, muss aber auch mit dem Rechnen anfangen: Ich benötige gut 90 Minuten, um wieder nach Flagstaff zu kommen â€“ und ich habe Hunger wie Sau! Also beschließe ich doch frĂŒher zu fahren, bevor das leckere Thai-Restaurant schließt. Darauf habe ich nĂ€mlich jetzt noch mehr Lust als auf einen grandiosen Sternenhimmel. Ich habe auf meiner Reise ja auch schon so manch wunderschönen Sternenhimmel gesehen. Ich werde es verkraften.
Ich verlasse den Nationalpark und fahre wenig spĂ€ter durch finsterste Dunkelheit. Lichtverschmutzung gibt es rund um den Canyon wirklich keine. Verkehr genauso wenig, weshalb ich wĂ€hrend der Fahrt problemlos die Sterne und den vollen Mond am Himmel genießen kann. Seitdem ich in Amerika bin, hatte ich bereits zwei-, dreimal den Mond mit beeindruckender Korona gesehen. Jetzt aber setzt der Mond von Arizona noch mal einen drauf: Dumm guckend fahre ich unter einem Mond daher, um den sich ein Ring spannt, der sĂ€mtliche Farben des Regenbogens abdeckt! Was zum â€Š? So etwas habe ich noch nie gesehen. Ein kreisrunder Regenbogen, der sich wie zu groß geratene Saturnringe um den Mond spannt. Wunderschön.

Nicht nur der Einsamkeit der ewig geraden Straße, sondern auch der Cruise Control habe ich es zu verdanken, dass ich wĂ€hrend der Fahrt meine StinkefĂŒĂŸe aus dem Fenster halten, und so etwas Luft an sie heranlassen kann. Wunderbar â€Š und bitter notwendig. WĂŒrg.

Weiter geht’s auf Seite 8

Das Swaddee Thai Restaurant verwöhnt mich heute mit einer Tom Kha Suppe und Panang Curry. Was ist das lecker! Speziell die Suppe. Außerdem hat man mir heute verdammt viel Tofu ins Essen gemischt. Ist das ein Gruß der KĂŒche, weil ich erneut gekommen bin? Erkannt hat man mich zumindest sofort und sehr lieb begrĂŒĂŸt.

Ich wohne nicht mehr im Hostel! Rachel und Lucas sind wieder aus Phoenix zurĂŒck und laden mich zu sich ein. Ich bin nach meiner taglangen Wanderung und dem Essen ganz schön mĂŒde, schraube die RĂŒckenlehne des Fahrersitzes in eine angenehme Liegeposition und mache ein kurzes Verdauungsnickerchen. Dass ich einschlafe, war, nachdem ich mit Lucas abgeklĂ€rt habe, wie ich zu ihnen komme, eigentlich nicht geplant. Ups. Als ich wieder wach werde, stelle ich erleichtert fest, dass es nicht bereits drei Uhr nachts ist, und dĂŒse los in die North San Francisco Street. Ja, Rachel und Lucas wohnen tatsĂ€chlich nur fĂŒnf Minuten von der Historic Downtown entfernt, in der nördlichen FortfĂŒhrung derselben Straße, in der sich auch das Hostel befindet. Lucas öffnet mir die TĂŒr. Drei Wochen nachdem wir uns zum ersten und bislang einzigen Mal gesehen haben, sehen wir uns nun also 1000 Kilometer weiter westlich wieder. Das ist durchaus ulkig und ich bin dem sympathischen PĂ€rchen wirklich sehr dankbar. Lucas hat vier Mitbewohner: drei Jungs und ein MĂ€del. Rachel wohnt nicht in dem Haus, das auch als das »Frisbee House« bekannt sein soll, da darin stĂ€ndig Frisbeespieler wohnten und wohnen als auch in Zukunft an Frisbeespieler weitergegeben werden soll. Da ich nach wie vor nicht verstehe, was es mit dieser Frisbeepassion auf sich hat, lasse ich mir nach der herzlichen BegrĂŒĂŸung von Lucas und Rachel erklĂ€ren, was Ultimate Frisbee ist.

Ultimate Frisbee
Ultimate Frisbee ist ein Mannschaftssport, den man am ehesten noch mit Fußball oder Rugby vergleichen kann. Auf einem Spielfeld treten zwei Mannschaften gegeneinander an, die sich weitestgehend berĂŒhrungslos versuchen das Frisbee abzujagen und mithilfe von PĂ€ssen die Scheibe in der gegnerischen Endzone zu fangen, um zu punkten. Schiedsrichter gibt es keine, da das Fair Play die wichtigste Regel beim Ultimate Frisbee ist.

Rachel, Lucas und die restlichen Bewohner scheinen wahrlich große Fans ihres Sports zu sein, denn ĂŒberall an den WĂ€nden hĂ€ngen die runden Scheiben. Das Frisbeeturnier, zu dem Rachel, Lucas und wohl auch alle anderen Frisbeespieler Flagstaffs nach Phoenix gereist sind, ist im wahrsten Sinne des Wortes ins Wasser gefallen. Stattdessen wurde ordentlich gefeiert. Die Reise wird also keineswegs bedauert.
Mitbewohner Adam gesellt sich zu uns. Ich mag den großen Kerl mit der sich andeutenden Platte auf dem SchĂ€del, den intensiven Augen und dem Vollbart von Anfang an. Wir kommen sofort ins GesprĂ€ch. ZunĂ€chst erzĂ€hle ich von meinem Tag am Grand Canyon, woraufhin er mir von seinen Erlebnissen dort berichtet. Er erzĂ€hlt von einem Dorf von Native Americans im Canyon, das man nur nach einem neun Stunden dauernden Hike erreichen kann. Das von der Außenwelt komplett abgeschottete Dorf sei paradiesisch, meint er. Alternative Möglichkeiten, um dorthin zu gelangen, seien lediglich der Helikopter oder ein Eselsritt. Ich erzĂ€hle von Margaret Bradleys Schicksal im Canyon, was bei Adam Erinnerungen an ein selbst erlebtes Abenteuer in Alaska weckt: Gemeinsam mit Freunden wanderte er durch den am dĂŒnnsten besiedelten Bundesstaat, um zum legendĂ€ren Bus von Chris McCandless alias »Alexander Supertramp« zu gelangen, der durch das Buch und Sean Penns Film »Into the Wild« zur weltberĂŒhmten Aussteigerkultfigur wurde. Als Gruppe haben sie den Fluss, den Chris nicht bewĂ€ltigen konnte, ĂŒberquert. Das Durchwaten des Flusses sei nur gemeinsam und mithilfe der »Schlangentechnik« möglich gewesen: HierfĂŒr hĂ€lt sich jeder am Rucksack oder RĂŒcken des Vordermanns fest, sodass sich der Tross wie eine Schlange langsam, Schritt fĂŒr Schritt durchs kalte Wasser ziehen kann. Laut Adam war diese Aktion ziemlich hart und gefĂ€hrlich. Es folgt die Geschichte, bei der sich Adam, Lucas und sieben weitere Freunde einst bei einem Hike in Utah verliefen. Die einzige Chance der Natur zu entfliehen, berichten die beiden dramatisch, war es, den Sternen nach Westen zu folgen, weil dort irgendwo die Straße sein musste. Adam war der Einzige, der wohl durchgehend cool geblieben ist. Lucas gibt zu ein bisschen Panik geschoben zu haben, besteht aber darauf, dass die anderen wesentlich verzweifelter waren. Nach kurzer Diskussion stimmt Adam ihm zu, wĂ€hrend Rachel die Story mit weit geöffnetem Mund und KopfschĂŒtteln zum ersten Mal hört und unglĂ€ubig verdaut: »Why did you never tell me about that?«, fragt sie ihren Freund fassungslos.
Der aus Jerusalem stammende Adam repariert und verkauft FahrrĂ€der und bereits seit Kindheitstagen Trödel und Sammlerobjekte. Er erzĂ€hlt stolz von einer wunderschönen SĂ€ge, die er entdeckt hat. Riesengroß sei diese und vermutlich aus dem 19. Jahrhundert. Da hat jemand eine echte Leidenschaft entwickelt.
Man erzĂ€hlt mir, dass es nahe Flagstaff ein Skigebiet gibt. Mir sind zuvor schon die Skiverleihe in der Stadt aufgefallen. An diesem Wochenende wurden aufgrund fehlender Skitouristen SkipĂ€sse samt AusrĂŒstung und Transport fĂŒr einen Dollar angeboten! What? HĂ€tte ich das mal frĂŒher gewusst â€Š und ein, zwei Tage mehr zur VerfĂŒgung. Der Abend im »Frisbee House« ist wirklich cool. Ich fĂŒhle mich in dieser WG nicht wie der Fremde, der zu Besuch ist, sondern vielmehr wie ein alter Freund, den man lĂ€nger nicht gesehen hat und mit dem man nun die neuesten Geschichten seit dem letzten Wiedersehen austauscht. Wir starten noch eine philosophische Diskussion ĂŒbers Sterben, bevor sich Adam verabschiedet und Lucas und Rachel mir offenbaren, dass sie sich unbedingt eine Folge »Game of Thrones« ansehen mĂŒssen. Kaum lĂ€uft die Serie trete ich meine letzte Wanderung fĂŒr heute an. Nach einem großartigen Tag geht es ins Tal der TrĂ€ume â€Š

 

Flagstaff – Grand Canyon
127 Kilometer

Grand Canyon

Ein kurzer Film ĂŒber Adam Shamoni

https://youtu.be/iSHZDhQq84k

Quellen
Informationen zum Colorado River, Grand Canyon Village und John Wesley Powell: Wikipedia

Tag 78   Inhaltsverzeichnis   Tag 80 – Teil 1

0 0 votes
Article Rating
Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest

0 Comments
Oldest
Newest Most Voted
Inline Feedbacks
Lies alle Kommentare
0
Would love your thoughts, please comment.x