Tag 80 – Teil 1: Die Route 66 und die Geisterstadt der Cowboys und Hippies

Serendipity – Teil 2

2013 01 28 17.04.09

Montag, 28. Januar 2013
Flagstaff – Route 66 (Seligman – Kingman) – Chloride

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Am Morgen steht Rachel vor mir im Wohnzimmer. Sie macht sich für die Arbeit fertig und mich darauf aufmerksam, dass es schneit – ordentlich sogar. Holy Shit! Passend zu diesem Gedanken betritt die 16-jährige WG-Hündin sehr gemächlichen Schrittes den Raum und sagt: »Guten Morgen«, indem sie zwei übelste Fürze neben mir abdrückt. Ich muss fliehen und erzähle in der Küche nach Luft schnappend Lucas davon. Er kennt die Mörderfürze der Hündin und entschuldigt dies mit ihrem hohen Alter. Auf einmal bellt das Tier mit den hängenden Backen und den traurigen Augen. Lucas führt fort, dass die Hündin sich generell nicht mehr allzu gut unter Kontrolle hat und zudem vollkommen taub ist: Sie hört beispielsweise ihr eigenes Gebell nicht.
Nachdem wir Rachel verabschiedet haben, gesellt sich Lucas’ Mitbewohnerin Genevieve zum Frühstücken zu uns. Danach brechen auch wir auf. Ich biete Adam an, ihn samt seiner Ski zu einer Shell-Tankstelle zu bringen, von wo aus es per Bus weiter in Richtung Skigebiet geht. Lucas muss zur Uni. Die Straßen in Flagstaff wurden noch nicht geräumt, doch unser Weg zur Tanke und zur Northern Arizona University führt selbstverständlich nur bergab. Es ist die reinste Rutschpartie mitsamt Diskussionen, welche Route am schlauesten wäre, ohne unkontrolliert irgendwo dagegenzudonnern. Während die beiden lustig debattieren, fällt mir ein, dass ich ja noch einen Wochenpass für den Grand Canyon National Park einstecken habe, von dem ich keinen Gebrauch mehr machen werde. Das ist doch ein nettes Abschiedsgeschenk. Also krame ich den Pass aus meinem Portemonnaie und überreiche ihn feierlich meinen neuen Freunden. Ab sofort wird nur noch darüber diskutiert, wann man diese Woche zum Canyon fahren könnte.
Die Verabschiedung von den beiden verläuft herzlich. Mit dieser Clique hätte ich liebend gerne noch wesentlich mehr Zeit verbracht. Wirklich tolle Leute.

Ich verlasse Flagstaff in Richtung Westen über die Route 66, die gut sechs Kilometer später zur Interstate 40 wird. Die I-40 ist zu großen Teilen die alte Route 66 oder verläuft nahezu parallel zur historischen Strecke. Ich überlege, ob ich schon bei Exit 161, knapp 50 Kilometer hinter Flagstaff auf den Old Highway 66 wechseln soll. Ich entscheide mich dagegen, da mein Zeitplan für heute bereits knapp genug bemessen ist: Um 20 Uhr muss das Auto in Vegas sein und ich habe bis dahin noch einiges vor. Knapp zwei Kilometer hinter Exit 161 bin ich sehr froh, die Ausfahrt nicht genommen zu haben, da ich mich plötzlich im tiefsten Schneegestöber wiederfinde. Es geht nur noch langsam voran und die Interstate ist mit Sicherheit besser geräumt als die verkehrsstrategisch heute unwichtige Route 66. Ich habe mir vorgenommen, die Kultstrecke ab der Ausfahrt 139, Crookton Road, zu nehmen. So wird’s dann auch gemacht.
Je weiter ich nach Westen komme, desto mehr verabschiede ich mich von der rund zwei Kilometer hohen Höhenlage. Der Schnee sieht mittlerweile mehr nach Regen aus und links und rechts neben der Fahrbahn ist es nicht mehr so weiß.

Es sieht nicht so aus, als müsste ich im Schneckentempo in Richtung Vegas trotten und dann im schlimmsten Fall sogar noch einen zusätzlichen Tag Miete für den Wagen blechen. Dafür weist die Straße ab und an ganz schön heftige Schlaglöcher auf, die einen dann doch wieder zum Abbremsen und vorsichtigeren Fahren zwingen. Ja, sind wir hier in Kuba, oder was? An der Beschaffenheit der Straße merkt man, dass die I-40 die weit wichtigere Straße ist und die »Mother Road«, die sich von Santa Monica durch insgesamt acht Staaten bis Chicago zieht, wohl eher für Touristen und Nostalgiker weiterhin von Bedeutung ist.
Auf meiner Fahrt von San Diego nach Arizona und auch in Flagstaff habe ich schon sehr lange Züge gesehen, aber das Teil, das auf einmal neben mir auftaucht und mich kilometerweit begleitet, sprengt alles bisher Gesehene. Ich kann das Ende des Zuges noch nicht einmal am Horizont ausmachen! Das ist abartig … Auch abartig ist die Tatsache, wie die Amis streuen. Ich fahre über Tausende, ach was: Millionen schwarzer Steinchen. Ich hoffe mal sehr, dass der Lack nicht darunter leidet beziehungsweise, dass meine Billigversicherung streuungsbedingte Lackschäden deckt. Oje.

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Knapp 30 Kilometer nachdem ich auf die Route 66 gewechselt bin, erreichen der Zug und ich ein Örtchen namens Seligman. Seligman hat noch nicht einmal 500 Einwohner und doch kenne ich das Dorf irgendwoher. Richtig! Meine Eltern sind vor einigen Jahren hier gewesen und haben mir davon berichtet. Ich verstehe auf Anhieb, weswegen die beiden von Seligman erzählt haben, denn der Ort ist äußerst bunt. Hier dreht sich alles um die Route 66. Der Ort scheint wie die »Main Street of America« in der Zeit stehen geblieben zu sein. Seit den 70ern dürfte hier nichts mehr groß verändert worden sein. Das erste Gebäude, das mir direkt ins Auge springt, ist Delgadillo’s Snow Cap. Die weiße Fassade des Hauses ist mit allerlei Essen – vornehmlich Softeis und Hotdogs – bemalt sowie mit »Shakes«, »Root Beer«, »Tacos«, »Burritos« und amüsanterweise auch »Cheeseburger with Cheese« und »Dead Chicken« beschriftet. Bunte, dreieckige Fähnchen und natürlich der »Star-Spangled Banner« flattern im Wind. Orangefarbene und blaue Plastikschalenstühle sind vor den Drive-in geschraubt und selbst eine historisch anmutende Zapfsäule, die so aussieht, als müsse man noch selbst pumpen, findet sich neben dem Gebäude.

Delgadillo’s Snow Cap
Der Drive-in wurde 1953 von Juan Delgadillo erbaut und eröffnet. Da sein Budget stark limitiert war, nutzte er zum Bau des Hauses vornehmlich Altholz, das er von der Santa Fe Railroad bekam. Delgadillo wollte Aufmerksamkeit auf den am heutigen Montag leider geschlossenen Laden ziehen, indem er einem Chevrolet das Dach abflexte, ihn mit allerlei Farbe bepinselte und mit reichlich Hupen sowie einem künstlichen Weihnachtsbaum im Kofferraum ausstattete. Seine Exzentrik übertrug sich auf seine Speisekarte, auf der auch im Jahr 2013 noch – wie ja ebenfalls an der Fassade zu lesen ist – »Cheeseburger with Cheese« oder eben »Dead Chicken« angeboten werden. An der Eingangstür gibt es zwei Türknaufe: einen links und einen rechts. Nur einer der beiden öffnet die Tür, wenn wieder einmal »Sorry, we’re open« im Fenster zu lesen ist. Der Witzbold hinter diesem bunten Laden verstarb leider 2004. Das Geschäft wird seither von seinen beiden Kindern fortgeführt.

Angel Delgadillo, »The Father of the Mother Road«
Delgadillos elf Jahre jüngerer und noch lebender Bruder Angel spielt ebenfalls eine wichtige Rolle in der Historie Seligmans. Als 1984 die nur einen Kilometer Luftlinie von Seligman verlaufende I-40 fertiggestellt wurde, verlor die seit 1926 existierende, aber erst seit 1938 komplett betonierte Route 66 an Bedeutung und wurde 1985 sogar offiziell vom United-States-Highway-System entfernt, welches durch das modernere Interstate-Highway-System ersetzt wurde. Dies hatte zur Folge, dass die Strecke teilweise noch nicht einmal mehr auf Landkarten ausgewiesen wurde. Der Verkehr verschwand somit quasi komplett aus Seligman und bedrohte die Existenzen der Einwohner. Angel Delgadillo gründete daraufhin 1987 die Historic Route 66 Association of Arizona, die sich dafür einsetzte, die »Mutter aller Straßen« mit den berühmten »Historic Route 66«-Schildern auszustatten und den Mythos zu erhalten. Die anderen betroffenen Staaten folgten diesem Beispiel, schützten unter dem Namen »Historic Route 66« die Straße und ließen Angel letzten Endes so zum Helden werden. Durch seinen Erfolg trägt der alte Herr nun so ehrfürchtige Spitznamen wie »The Father of the Mother Road«, »The Guardian Angel of Route 66« und »The Ambassador«. Noch heute zollen viele Biker dem »Paten« der Route 66 ihren Respekt, indem sie sich vom nahezu 50 Jahre als Friseur tätigen Angel in einer originalen Messerrasur samt Lederriemen zum baby face machen lassen. Ich weiß nicht, wie es an anderen Tagen in Seligman aussieht, aber heute scheine ich der einzige Easy Rider zu sein, der den Ort durchquert – und das auch noch ohne Harley.

Die anderen Gebäude Seligmans sind entweder Motels, Restaurants oder Souvenirläden, die größtenteils aussehen wie ehemalige Tankstellen aus alten Filmen und wie das Snow Cap mit bunten Farben, Lichtern sowie coolen, alten Autos und abgedrehten Statuen wie aufgespießten Motorrädern auf sich aufmerksam machen. Und natürlich sieht man überall das ikonenhafte Schild der Route 66.

Ich gehe in den amerikanisch-mexikanischen Grocery Store, um mir Verpflegung für die weitere Fahrt zu kaufen. Der Minimarkt ist sehr rudimentär und frei von großen Werbetafeln und Plastikaufstellern. Die mexikanische Verkäuferin wird von einem älteren Herrn zugetextet. Die putzige Szene grenzt schon fast ans Flirten. Ich finde nur Getränke und Chips. Für alles andere bräuchte ich einen Herd oder gekochtes Wasser.
Weiter geht die Reise. Der Mammutzug verlässt Seligman ein wenig früher als ich. Als ich die Verfolgung aufnehme, stelle ich den Tempomaten auf 70 mph. Es dauert über zwei Minuten, um den Zug zu überholen, der meiner Vermutung nach 45 bis 50 mph draufhaben dürfte. Die Mathematiker unter meinen Lesern mögen nun bitte die Länge des Zuges errechnen …
Hinter Seligman geht die Route 66 einfach nur ewig lange straight geradeaus. Keine Kurve, nichts. Die Landschaft ist weit. Gelb leuchtende Gräser ziehen sich bis zu den, den Horizont einnehmenden, leicht bewaldeten Hügeln. Von Verkehr kann eigentlich keine Rede sein. Als Seligman bereits 20 Kilometer hinter mir liegt, sind mir erst ein Auto und ein LKW entgegengekommen. Bis Kingman, wo ich auf die Interstate in Richtung Vegas wechseln werde, sind es insgesamt 140 Kilometer. Das macht insgesamt rund 100 Meilen Route 66. Rock und Roll.
Die Wolken werden dünner und machen immer öfter Platz für die Sonne und das Blau des Himmels. Kein Verkehr, immer besser werdendes Wetter, eine gerade und schön anzusehende Strecke und dazu finde ich stets irgendwelche Classic-Rock-Radiosender, die die üblichen Verdächtigen spielen: Yes, ich habe Spaß! Ich stelle fest, dass sich in Amerika wohl ein paar neue Bands für die Riege des Classic Rock qualifiziert haben. So laufen bei jedem dieser Sender regelmäßig Soundgardens »Black Hole Sun«, Pearl Jam und Nirvana. Ist Grunge der neue Classic Rock? Verrückt. Zu den Grungehelden gesellen sich noch Metallica und Guns N’ Roses: »Nothing Else Matters« und »November Rain« werden ständig gespielt. Wunderbar! Dank Radio und Cruise Control singe und fotografiere ich mich im Schneidersitz Richtung Kingman. Mir fällt auf, dass alle paar Meilen auf Privatgrundstücken am Straßenrand alte Trucks aus den 50ern vor sich hingammeln. Die Trucks sind allesamt hochgebockt. Bereift sind sie nicht mehr. Wie klischeehaft ist das denn bitte? Ach, ich sag’s ja: Nach dieser Reise glaube ich Hollywood viel mehr als zuvor. Es ist also keine unrealistische Hinterwäldlerromantik, die Hollywood erfunden hat, um coole Wracks ins Bild zu packen. Nein, es gibt sie wirklich.

Langsam ändert sich die Landschaft. Aus der eher monokulturellen Agrarlandschaft mit Gräsern wird eine steppenartige mit vereinzelten Sträuchern, Büschen und Bäumen. Es wird noch trockener und die bewaldeten Hügel entfernen sich mehr und mehr. Auf einmal wird die Straße kurviger und verläuft in einer Schlucht neu auftauchender Hügel. Diese Hügel sehen anders aus als jene, die zuvor den Horizont ausmachten. Es sind Geröllhügel. Diese trockenen Steinberge machen es deutlich, dass ich mich mehr und mehr dem Wüstenstaat Nevada nähere.
Ich passiere einen Ort und frage mich, wie man auf die Idee kommt, sich hier niederzulassen. Im Hintergrund zieht sich eine Hügelkette am Horizont entlang. Zu Füßen der Hügel befindet sich jenes merkwürdige Dorf – oder Städtchen? Die Größe ist wirklich schwer einzuschätzen, da sich die Siedlung sehr weit durch die Prärie zieht. Zunächst denke ich, dass es sich um Wohnwagen handelt, die dort ein Happening, Festival oder was auch immer veranstalten. Erst bei genauerem Hinsehen bemerke ich, dass es sich um Häuser handelt, die relativ weit voneinander entfernt diese sonderbare Siedlung bilden. Der Verkehr nimmt zu. Wie groß ist das Kaff?
Ich fahre an Wegweisern vorbei, die den West Grand Canyon ausschildern, von dem man von der Route 66 aus übrigens nichts sieht. Dennoch lösen die Schilder ungläubiges Staunen bei mir aus: Seit über drei Stunden fahre ich westwärts und habe dabei ständig den Canyon nördlich von mir! Wenig später bin ich wieder baff und dazu noch höchst erfreut: Yeah, Klischee! Ich fahre ganz lässig durch die Prärie, als aus dem Nichts tatsächlich vier Steppenläufer – diese rund geformten, trockenen Büsche, die man aus Western kennt – über die Straße wehen. Ich bin begeistert.

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Als ich im Mohave County die 28.000-Einwohner-Stadt Kingman erreiche, wird es Zeit zu tanken. Die Gallone Sprit kostet nur 3,10 Dollar. Bis Vegas soll es nur noch 70 Minuten dauern. Da bin ich ja flotter unterwegs als erwartet. Von der Route 66 wechsle ich auf die State Route 93. Bevor ich zu Cari nach San Diego aufgebrochen bin, erzählten mir ein paar Jungs aus dem Hostel Cat, dass ich mir unbedingt einen Ort anschauen soll, der an der State Route 93, knapp 90 Kilometer vor der Grenze zu Nevada liegt: Mein nächstes Ziel heißt daher Chloride.
Nach etwas mehr als 30 Kilometern fahre ich von der 93 rechts ab, auf den County Highway 125: Chloride Road. Ein hübsch gestaltetes Schild weist auf die historische Minenstadt hin. Keine fünf Kilometer westlich der US-93 endet der County Highway in meinem Zielort. Schon die ersten Meter dieses Städtchens machen mir bewusst, dass Chloride ein besonderer Ort ist. Am Ortseingang wird auf Brettern über die Grundpfeiler des Ortes aufgeklärt. Die Schrift ist in alter Wildwestmanier in die Planken eingeritzt. Laut den Brettern leben 352 Menschen im 1860 gegründeten Ort. Andere Quellen datieren die Gründung auf das Jahr 1863. Es gibt unter anderem eine freiwillige Feuerwehr und eine Baptistenkirche. Wenige Meter später tuckere ich in Schrittgeschwindigkeit an einem antiken rostfarbenen Truck vorbei. Das Wrack ist tatsächlich noch bereift und steht vor einem ebenfalls noch mit Reifen ausgestatteten, nicht wesentlich jüngeren aber genauso verrosteten Traktor. Ein alter Pflug, ein verrosteter orangefarbener Container und eine dieser typisch amerikanischen Windmühlen auf drei Beinen vervollkommnen die Szene. Auf der Stelle will ich eine Rockabillyband gründen. Das passende Cover für unsere erste Platte sehe ich gerade live vor mir. Ich behalte die Schrittgeschwindigkeit bei. In diesem Ort möchte man links, rechts und vor sich einfach nichts verpassen: Chloride ist von trockenen, orange-braunen Hügeln umrahmt. Die Häuschen sind allesamt aus Holz. Jedes hat eine andere Farbe, aber keines ein zweites Stockwerk. Die Zäune sind entweder aus verrostetem Metall oder sichtlich altem Gebälk. Würde mich nicht wundern, wenn der eine oder andere noch aus der Gründungszeit Chlorides stammt. Kuhschädel hängen an den Zäunen und Häusern. Es folgt eine mit roten und grünen Holzkacheln geschmückte Tankstelle. In den kleinen Fenstern hängen weiße Vorhänge. Funktionieren diese Zapfsäulen noch? Die Schläuche sehen zumindest noch gut aus, die Säulen jedoch mehr nach Museum. Was für eine hübsche Tanke! Irritierenderweise verlaufen Schienen um das Haus. Führen sie zu einer alten Mine? Ich nähere mich sichtlich dem Zentrum. Digger Dave macht mit zahlreichen selbst bepinselten Schildern auf seine angeblich weltberühmten Burger aufmerksam. Ein alter Wassertank, der auf vier Holzbeinen steht und wie so vieles in dieser Ortschaft nach Wildem Westen aussieht, heißt noch einmal Greenhorns wie mich in Chloride willkommen. Das 1873 gegründete, seit 1893 durchgehend betriebene und dadurch mit das älteste, stetig arbeitende post office des Staates Arizona, und das 1928 errichtete Haus daneben sind die ersten gemauerten Gebäude, die ich sehe. Würde mich nicht wundern, wenn das mit Russell beschriftete Gebäude einst der Saloon der Stadt war. Die Häuser dieses Blocks sind mit einem hohen Bordstein miteinander verbunden. Zusätzlich schützen Wellblechdächer die Passanten vor Regen oder hier wohl vielmehr vor der Sonne. Ja, ich wiederhole mich, tue es aber gerne: Es sieht aus wie in einem Western.

Ich biege ab. Die Straße wird zunächst nur staubiger, dann kommen immer größer werdende Kieselsteine hinzu und schließlich endet hier und da sogar der Asphalt. Ich entdecke einen meiner zwei eigentlichen Gründe, die mich nach Chloride fahren ließen: Die Jungs aus dem Hostel berichteten, dass es in Chloride eine echte Geisterstadt aus Cowboyzeiten geben soll. Es gibt sie. Ich parke den Wagen auf dem staubigen Boden und sehe im Rückspiegel einen kleinen Jungen, der mit einem Stock umherrennt und Cowboy spielt. Wäre dies ein Film über einen Backpacker, würde ich jetzt sagen: »Komm schon. Das ist zu viel. Ist eine Geisterstadt nicht schon dick genug aufgetragen? Muss ausgerechnet jetzt auch noch ein Junge daherkommen, der mit einem Stock um sich schießt?«

Es tut mir leid, aber ich lüge nicht und trage noch nicht einmal dick auf. Als ich den Wagen verlasse, hüpft zudem noch eines dieser kleinen Erdhörnchen, wie ich es bereits im Grand Canyon gesehen habe, an mir vorbei. Und es wird noch besser: Neben der ghost town befindet sich ein Spielplatz. Natürlich kein Schickimickispielplatz à la Prenzlauer Berg mit Gummiabenteuerhügeln und Trampolin, sondern einer mit einem hässlichen weißen Metallzaun drumherum und unbetoniertem Boden, der mit brauner Erde und Steinen bedeckt ist. Außer einem Basketballkorb samt – hier dann doch – grau betoniertem Feld, Wippen und Schaukeln aus den 60ern gibt es nichts auf dem Spielplatz. Zwei Kinder sitzen auf den Schaukeln. Selbstverständlich. Was fehlt noch? Natürlich: Die Spielgeräte quietschen unentwegt und bei jeder Bewegung. Außer den quietschenden Schaukeln und den ab und an quiekenden Kindern hört man nur Vögel. Vögel, Kinder, Schaukeln. Ansonsten herrscht totale Stille. Ich wiederhole es noch einmal: Dies ist nicht die Ortsbeschreibung aus meinem neuen Neo-Western-Drehbuch. Dies ist Chloride, wo ein weiteres Mal Film zur Realität wird und ich mich zusätzlich frage, ob sich die Definition »Geisterstadt« eigentlich nur auf dieses Westernsträßchen hinter mir oder auf den kompletten Ort bezieht. Die Bewohner Chlorides wollen offensichtlich die Definition nicht auf sich übertragen wissen und haben daher ein Schild angebracht, welches das Gässchen gegenüber des Spielplatzes als ebenjene Ghost Town ausweist. Ich drehe mich um und blicke erstmals in die aufgegebene Stadt. Ich atme tief ein und nehme voller Genuss diese unglaubliche Atmosphäre auf. Zugleich bin ich höchst amüsiert – eben wie ständig, eigentlich immer auf dieser Reise. Wenige Meter neben mir startet ein Motor und durchbricht in dem Moment die sensationelle Geräuschkulisse, als ich die Geisterstadt betrete. Die Scheibe des Wagens wird heruntergekurbelt und ein Mann ruft mir entgegen: »Sorry, we just closed.«
Ich weiß nicht, was gerade geschlossen wurde und deute fragend auf die Geisterstadt.
»No, no. The gift shop.«
Er deutet auf das zweite Gebäude auf der rechten Seite der Geisterstraße. Damit kann ich leben. Ich nutze noch schnell die kurze Chance, um mich beim Fachmann ein wenig schlauzumachen. Er erklärt mir, dass die Geisterstadt echt ist. 1976 brannte jedoch die linke Seite des Westerndorfes nieder. Wenn ich es richtig verstehe, war er selbst es, der die Häuser wieder aufbaute. Die fünf Häuser auf der rechten Seite sind tatsächlich noch die originalen Häuser aus Wildwestzeiten. Im vordersten dieser Häuser führt der Mann seinen Souvenirladen. Die Wände der Originalhäuser seien aber so dünn, sagt er, dass man es bei kaltem Wetter darin nicht ewig aushält. Während er dies sagt, deutet er mit seinem Daumen und seinem Zeigefinger eine Wanddicke von höchstens zwei Zentimetern an. Die Sonne scheint mittlerweile zwar schön, doch ja: Warm ist es wahrlich nicht. Auch ich trage meine fingerlosen Handschuhe und meinen Mantel. Bevor er fährt, erzählt er mir noch, dass sogar einmal ein Film in diesem Sträßchen gedreht wurde.
»Really? What’s its name?«, frage ich.
»›Serendipity‹. Feel free to have a look at everything and enter the houses!«, sagt er, reitet davon und lässt mich mit offenem Mund zurück. Serendipity?
Ich berichte Cari von diesem unfassbaren Ort.
»You’re still in a movie!«, bestätigt sie meine Gefühlslage.
Ich mache ein Lagerfeuer, haue mir ein paar Bohnen hinter die Kiemen, stecke mir eine Selbstgedrehte zwischen die Lippen, lasse das Kojotengeheul aus »Zwei glorreiche Halunken« erklingen und tue breitbeinig wie mir vom »Gift Shop Man« geheißen: Ich betrete den Wilden Westen. Als ich gleich beim ersten Haus durchs Fenster schaue, sehe ich eine alte Zeitung auf dem Boden liegen, die wahrhaftig so aussieht, als sei sie aus dem 19. Jahrhundert. Allerdings liegt sie in einem der Häuser der linken Seite, welches obendrein kein Dach hat. Die Überschriften passen aber so dermaßen ins Bild, dass die Illusion passt. Ein Artikel handelt von Bass Reeves, der von 1838 bis 1910 lebte, vermutlich Amerikas erster Schwarzer war, der es vom Sklaven zum U.S. Marshal schaffte und dessen Leben später vermutlich als Inspiration für die Erschaffung des fiktiven Lone Ranger diente. Später recherchiere ich ein wenig: Bei der vergilbten Zeitung handelt es sich um die Territorial News, eine aktuelle Zeitung, die sich lustigerweise in der Tat mit dem Wilden Westen auseinandersetzt. Das Exemplar in Chlorides Geisterstadt wurde 2008 gedruckt.
Wie es sich gehört, weht ab und an ein Lüftchen durch die Geisterstadt, wodurch eine Tür in Bewegung gerät und die Totenstille mit einem fiesen Knarren untermalt. Wie das Post Office und Russell Building sind selbstredend auch hier die Häuser mit einem überdachten Steg miteinander verbunden. In der Ghost Town ist natürlich alles aus Holz. Ein Post Office gibt es auch und an der Wand des Hotels sehe ich ein Plakat, das darauf hinweist, dass Banditen die Postkutsche überfallen und 5000 Dollar erbeutet haben. Auf die Bank folgt der Dead Ass Saloon. Witzig. Ich betrete den Saloon durch die Schwingtür. Bis auf den geköpften Klavierspieler ist kein Arsch da. Ist ja auch eine Geisterstadt. Dafür funktioniert das Klavier noch – zumindest die meisten der Tasten. Unter dem Tresen liegt eine Spielkarte: Herz-Sechs. Hinter der Bar stehen noch schön aufgereiht die alten Whiskeyflaschen. An den Wänden hängen Fahndungsplakate, die Bill of Rights und die Unabhängigkeitserklärung. Ein Bier kostet fünf Cent, Whiskey 25. Erhängt werden ist kostenlos. Es hat teilweise den Anschein, als wäre die Westernstadt vor nicht allzu langer Zeit erst verlassen worden. Die Wanduhr ist stehen geblieben: ein Uhr. Die Zeit ist stehen geblieben und das trockene Wetter Westarizonas konserviert die Relikte der Vergangenheit. Gegenüber des Saloons, und somit auf der rechten Seite, befindet sich das Silver Belle Playhouse. Sogar ein Theater hatten sie also in Chloride. Rauchen, Spucken und Fluchen waren per Verordnung darin verboten. Neben dem Saloon steht ein Außenklo, in dem auch eine Rolle Klopapier hängt.

Am Ende der Sackgasse befindet sich das Gefängnis, daneben natürlich direkt der Sheriff, der Hufschmied und der Totengräber. Ich entdecke ein Fahndungsplakat von Butch Cassidy und frage mich, ob dies Kopien der echten Plakate sind. Zumindest sehen sie sehr authentisch aus und sind reizvoll zu lesen. So wird bei Butch Cassidy eine genaue Personenbeschreibung genauso angeführt, wie seine Verbrechen, wo er überall gesucht wird und dass er bereits eingesessen hat, jedoch begnadigt wurde. Am amüsantesten sind allerdings die Grabsteine des Totengräbers: »Here lies Netta Pearl, a very social girl. Lived her life in mortal sin, ate poisoned peaches from a tin.« Oder: »Jay Brown was a man of great renown. A coward filled him full of led, and on the street they found him dead.« Und der beste Spruch: »Little Jenna Lee fell from an old oak tree. No doctor came to her small bed, the undertaker came instead.«
Die Chloride Historical Society betreibt ein Museum in der Geisterstadt, das heute ebenfalls geschlossen ist. Im Souvenirladen kann man sich darüber hinaus einen 30-minütigen Film über Chlorides Westernhistorie ansehen. Ich beschließe meine Runde beim Ye Ole Shoppe, dem Souvenirladen. Darin bekommt man offenbar auch Hilfe in Computerfragen. Zumindest hängt eine drollig beschriftete Tafel neben der Eingangstür: »Now available: Windows 8 upgrades! Easier than you think! Happy New Year 2013!«
An einer Tafel steht zudem geschrieben, was der Mann aus dem Souvenirladen sonst noch alles anbietet. Meine Güte, ein Multitalent in einem … ähm … vielseitigen Geschäft. Das Angebot reicht von Computerreparaturen über Souvenirs, Webdesign, Videoerstellungen für YouTube, Autoaufklebern, DVD-Verleih, Kopien und Faxen, Kabeln, Landkarten bis hin zu … Hundewelpen. Es gibt Sachen, die gibt es gar nicht.
Hinter dem Laden befindet sich der vermutlich nicht echte kleine Friedhof der Geisterstadt. Hier liegen in kärglich mit Steinen umrandeten und ungepflegten Gräbern ein 1882 erhängter Pferdedieb, namenlose Bürgerkriegsveteranen und Big Jim, der laut Grabstein doch allen gesagt hat, dass er krank sei … So kann’s gehen.

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Als ich zufrieden die Geisterstadt verlasse, begegne ich einer sehr freundlichen, vermutlich 50-jährigen Anwohnerin. Es dauert nicht lange bis ich davon ausgehe, dass sie im Yesterdays arbeitet, einem Restaurant, das sich hinter dem Spielplatz befindet. Nun, sie erzählt mir zumindest sofort die Geschichte des Ladens, was ich als eine sehr ansprechende und im Übrigen in keiner Weise aufdringliche Werbung verstehe.
Das Yesterdays war früher ein stagecoach stop, also eine Haltestelle der Postkutsche, an der die Räder gewechselt, die Pferde getränkt und die Besatzung und ihre Passagiere für die Weiterreise gestärkt wurden. Die Frau erzählt mir weiter, dass Chloride heute beschauliche 250 Einwohner hat. Also noch einmal 100 weniger, als am Ortseingang geschrieben steht. Dauerhaft leben sogar nur 150 Menschen im Ort.

So this is Chloride: Vom Goldrausch, den Hualapai und der Eisenbahn
Zu seiner Blütezeit zwischen 1890 und den 1920er und 1930er Jahren lebten laut der Chloride Chamber of Commerce bis zu 3000 Menschen im Ort. Eine Zahl, die unrealistisch anmutet. Früher hatte Chloride aber einen anderen Stellenwert: Nachdem man um die 1840er in der Gegend zuerst auf Silber und später auf Blei, Türkis und Gold stieß, brach der Gold- und Silberboom aus. Der Name des Ortes kommt notabene vom als Erstes entdeckten Silberchlorid. Es kam zu Tumulten mit dem Volk der Hualapai, die die Ausbeutung der Hügel beträchtlich erschwerten. Erst 1870 wurde ein Vertrag zwischen den Parteien unterzeichnet, der den Zwist beilegte. 1899 wurde die älteste Minensiedlung Arizonas an das Schienennetz angeschlossen. Später sollte die Strecke den Bau des Hoover Dams unterstützen, was letztlich an der dann doch zu großen Distanz scheiterte und der Strecke anstelle einer Expansion in den 30ern die Einstellung bescherte. 1917 lebten nur noch rund 2000 Menschen in Chloride und 1944 konnte man den Ort schließlich fast als Geisterstadt bezeichnen.

Die freundliche Frau trägt mir auf, dass ich mir die Galerie einer alten Künstlerin ansehen muss, die am Ende des Dorfes wohnt und den Zaun am Ortseingang gestaltet hat. Der ist mir bei all diesen schönen Eindrücken, die sich mir beim Betreten Chlorides boten, gar nicht aufgefallen. Vorher soll ich mir aber unbedingt noch die »Chloride Murals« ansehen. Die hatte ich aber sowieso schon eingeplant: Die »Murals« sind nämlich neben der Geisterstadt der zweite Grund meines heutigen Besuchs.

»Chloride Murals«
In den 60er Jahren verirrten sich für kurze Zeit einige Hippies und Andersdenkende ins Wüstennest. Einer von ihnen, Roy Purcell, hinterließ bei seinem Campingintermezzo in den östlichen Hügeln glücklicherweise die »Chloride Murals«: Felsmalereien. 2006, 50 Jahre nachdem er die Felsen bemalte, kam der Künstler zurück, um die Gemälde zu erneuern.

Seit Purcell und den anderen Hippies haben sich so manche Künstler im Ort niedergelassen. Eigentlich besteht Chloride nur aus Freaks. Das sagt meine Begleitung zwar so nicht, lässt es aber in ihren Erzählungen durchschimmern. Außerdem erwarte ich gar nichts anderes von den Bewohnern dieses famosen Kaffs. Bevor ich zu den Felsen und der alten Künstlerin aufbreche, trinke ich erst einmal eines der 115 Biere, die das Yesterdays im Angebot hat. Meine neue Bekanntschaft ist – welch Überraschung – die Serviererin, eine weitere Dame die Köchin. Natürlich soll ich ein regionales Bier probieren. Eine Bitte, der ich nur allzu gerne nachgehen möchte. So richtig »local« ist’s dann doch nicht, wie ich Cari, the girl from Tucson, wissen lasse: »This town and its people are great! I’m drinking a beer from your hometown and get tons of information about this place. It’s full of artists and their art!«
»My roommates and I are watching the teachings of the Dalai Lama on Netflix. I was just starting to put on my makeup as he started talking shit about it and how we need to focus on inner beauty.«
Dann lacht sie.
»You don’t believe in inner beauty, my shallow darling?«
»I believe in inner beauty. And serendipity.«
Eine Wand des Yesterdays besteht aus einem ewig langen Gemälde. Dieses sollte ursprünglich im Desert Inn in Las Vegas hängen, jenem Kasino, das Howard Hughes gehörte und in dem das Rat Pack und all die anderen Großen ihrer Zeit auftraten. Als das Kasino dichtmachte und implodierte, wurde die Inneneinrichtung versteigert. Die Besitzer des Yesterdays, Bonnie und John, kauften das Gemälde und die Kronleuchter des Kasinos, weshalb mir nun die Kellnerin stolz erzählen kann, dass der ganze Spaß so schön in diesen Raum passt und den Anschein macht, als sei er speziell für dieses Haus gemacht worden. Die Einrichtung ist wirklich schön und verleiht dem ehemaligen Postkutschensaloon eine fast schon edle Aura inmitten des künstlerischen Wüstendorfes. Bonnie und John haben aber nicht bei all ihren im Restaurant platzierten Verschönerungen Klasse und Eleganz bewiesen. Neben meinem hohen Rundtisch, an dem ich mit einem Barhocker Platz genommen habe, sitzt der geliebte Hund der beiden … ausgestopft in einer Glasvitrine. Anscheinend stiere ich das große Tier lange genug an. Zumindest erfahre ich kurz darauf, dass der Hund nicht ausgestopft, sondern deep-frozen ist. Bitte, was? Was genau das bei toten Tieren, die man sich in ein Restaurant stellt, zu bedeuten hat, möchte ich gar nicht erst wissen. Oder vielleicht doch? Hat der etwa noch sämtliche Eingeweide? Kotz. Ich beschäftige mich lieber mit der Einladung, die vor mir auf dem Tisch liegt: Jimmy Hoffer wird 100 Jahre alt. Juchhe! Das Yesterdays richtet die Party aus und lädt alle herzlich dazu ein. Jimmy hat zudem angekündigt, dass auch er auf seiner Fete vorbeischauen wird. Geschenke möchte er aber keine. Die Gäste sollen lieber Essen für die food bank spenden. Mit 100 hat man eben schon alles.
Im Nebenhäuschen, das mit dem Yesterdays durch eine Tür direkt verbunden ist, hat der Felsenkünstler Roy Purcell eine Galerie mit weiteren Gemälden eingerichtet, in die mich die Kellnerin natürlich sofort hineinzerrt. Als ich mir die psychedelischen Bilder anschaue, wird mir klar, dass ich schnellstens zu den Felsen aufbrechen sollte, bevor die Sonne untergeht. Es wird langsam knapp. Ich verdrücke also schnell meinen Burger, pumpe das Bier aus Tucson ab und mache mich auf den Weg. Beim Bezahlen warnen mich die beiden Damen noch vor der Straße dorthin, die ich mit meinem Mietwagen wohl nicht nehmen könne. Na, super. Zum Laufen wird es wegen der untergehenden Sonne nun wirklich etwas eng. Ich sehe mich schon joggen …

Entgegen der Ankündigung der Ladys ist die Straße gar nicht so schlimm. Es ist zwar stellenweise ein wenig wie Hindernisparcours fahren, aber letzten Endes handelt es sich bei der Straße doch nur um einen etwas rustikaleren Feldweg. Die »Murals« sind durch auf Fels gemalte Pfeile ausgewiesen und leicht zu finden.

Als ich den Motor ausschalte und aus dem Wagen steige herrscht absolute Stille. Ich erinnere mich an die Tankstelle auf meinem Weg von San Diego nach Flagstaff, wo es auch so unfassbar ruhig war. Schon wieder Arizona. Wer also mal Ruhe benötigt, dem sei hiermit Arizona empfohlen.

»The Journey: Images from an Inward Search for Self«
Die bunten Farben, die Roy Purcell den Felsen hinter Chloride verliehen hat, sind kräftig und durch die naturgegebene Ungleichmäßigkeit der Felsen entsteht daraus eine beeindruckende Dynamik. Jeder Fels hat ein eigenes Motiv. Diese sind entweder psychedelisch oder mit kryptischen Zeichen versehen. Mal stellen sie einen Minenschacht dar, dann scheinen sie wiederum von den Ureinwohnern höchstselbst zu stammen – es gibt in der Gegend übrigens tatsächlich auch Petroglyphen der Hualapais. Der Schwanz einer riesigen Schlange wird zu den Klauen eines Vogels, vielleicht eines Adlers, und bedroht eine Siedlung. Wenige Meter daneben ist vermutlich selbige Siedlung unter friedlich idyllischem Sonnenschein und Schäfchenwolken zu sehen. Fußspuren, Yin und Yang etc. pp. Den Namen des Gesamtkunstwerks hat Purcell auf einen anderen, sehr zentralen Felsen geschrieben: »The Journey: Images from an Inward Search for Self«.

Ich entdecke Kojotenspuren im Boden – oder Spuren von irgendeinem anderen Tier. Ach, das sind bestimmt Kojotenspuren. Ich klettere die Felsen hinauf, um zu sehen, ob Purcell auf dem Hügel noch weitere Steine bemalt hat. Hat er nicht. Dafür ist die Aussicht toll … und die Sonne schon auf dem Weg nach unten. Mist. Felsen, Kakteen und auf dem weit höheren Hügel gegenüber sehe ich plötzlich ein Pferd. Was für ein Bild. Cowboyromantik. Leider ist mein Tagesprogramm noch nicht abgearbeitet, weswegen ich mich, für meinen Geschmack etwas zu überstürzt, wieder auf den Weg zurück ins Dorf mache.

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In Chloride sehe ich den Verkäufer des Gotta Stop, dem Nachbarladen des Yesterdays, mit Cowboyhut vor seinem Laden stehen. Erst jetzt fällt mir auf, was in diesem Laden angeboten wird: Hufeisen und Sattel. Yeehaw! Als ich langsam vorbeituckere, bemerkt der Cowboy meinen interessierten Blick und grüßt mich stilgerecht: Er hebt seinen Zeige- und Mittelfinger lässig an die Krempe seines Kopfschmuckes und bewegt sie in einer schnellen Bewegung grüßend in meine Richtung. Geiler Scheiß …
Ich suche nach dem Shop der alten Künstlerin, von der mir im Yesterdays erzählt wurde. Zunächst lande ich am südlichen Ortsausgang, der einen über ein Viehgitter direkt in die weite Prärie entlässt. Dies ist die Fortführung des County Highway 125, der wieder nach Kingman führt. Bis zur Stadt kreuzt die Straße keine Ortschaft, nichts mehr. Betoniert ist sie auch nicht oder schlichtweg seit Jahren nicht mehr gereinigt worden und unter einer dicken Dreckschicht verschwunden. Ich suche weiter nach der Künstlerin und entdecke dabei ein hoffentlich nicht allzu ernst gemeintes Warnschild der Marke Eigenbau, welches davor warnt, zu nahe an die Minenschächte zu treten: »Stear clear the deep pit – Or your bones will be in it!«
Ob man im Wilden Westen wirklich immer so schön gereimt hat? Darüber hängen ein Totenschädel und zwei Knochen – aus Plastik. Als Nächstes passiere ich die Baptistenkirche, für die Sergio Leone sicherlich gleichfalls eine anständige Verwendung gefunden hätte. Nicht nur, dass sie mit einem starken mexikanischen Flair, rundem Giebel und rot-weißem Anstrich daherkommt, nein: Mir gefällt vor allen Dingen das Holzkreuz daneben. ¡Dios mío! Noch mehr Spaghettiwestern geht ja gar nicht!

In derselben Straße, der Pay Roll Avenue, finde ich keine 200 Meter weiter schließlich den gesuchten Laden: Shady Ladies Attic Antiques. Und wie cool ist das denn bitte schon wieder? Auf der gegenüberliegenden Straßenecke türmen sich Steine. Blumen und Kakteen sind darauf und dazwischen drapiert. Auf einem dünnen, alten und sehr zerbrechlich aussehendem Regal stehen Einmachgläser. Altmetall liegt wie wahllos zwischen den getürmten Mauern und aufgestellten toten Bäumen. Eine Vogelscheuche darf ebenso nicht fehlen und final schnürt sich ein roter Lichtschlauch um das Gesamtwerk. Und das war nur die Ecke gegenüber des Ladens! Vor dem Laden geht der Spaß genauso weiter: Altmetall, ein kaputter, alter Planwagen, Räder, Windmühlen, eine Reminiszenz an Pipi Langstrumpfs Limonadenbaum – diesmal mit alten Eimern und Kannen – und ein Schild, das mich neugierig auf mehr macht: »Shop Open!«
Ich parke den Wagen und bewundere gleich das nächste künstlerische Konstrukt: Auf jeden Zweig eines verdörrten Busches hat die »Shady Lady« etwas Gläsernes gestülpt; vornehmlich bunte Gläser, die von der Flasche bis zum Lampenschirm reichen. Ich öffne das mit Hufeisen und Pistolen verzierte Tor und betrete das Grundstück. Vorbei an allerlei geschmackvollem Gerümpel, schlage ich mich zur Haustür vor. Im Haus geht es unverändert weiter: Alles ist zugestellt. Ein Messie haust hier aber nicht. Da stecken Sorgfalt, Liebe und System dahinter. Ich schaue mich um und komme mir – so vollkommen alleine – irgendwie seltsam vor. Wo ist denn die alte Dame? Ich laufe mehr oder weniger durch das komplette Haus. Es läuft zwar Musik und die Lichter sind an, aber es scheint weit und breit niemand zu sein. Nun gut, denke ich mir, soll ja eine alte Frau sein. Vielleicht ist sie gerade nicht da, macht ein Nickerchen oder bekommt schlicht und ergreifend nichts von mir mit. Auf jeden Fall bekomme ich bis zum Ende meines Rundgangs niemanden zu Gesicht. Als ich das Haus wieder verlasse, komme ich auf die glorreiche Idee, einfach einmal um das Haus herumzugehen, um zu sehen, ob ich hier auf die Künstlerin oder Antiquitätenhändlerin treffe. Nein. Stattdessen treffe ich auf einen großen bellenden Hund, der sofort auf mich zugesprintet kommt. Argh! Ich drehe mich herum und erinnere mich daran, wie ein Junge aus meiner Nachbarschaft einmal von einem Schäferhund um ein Haar kastriert wurde, als wir als Kinder auf der Straße Fußball spielten und dem Wachhund wohl zu schnell unterwegs waren. Daher renne ich nicht zum Grundstückstor zurück, sondern gehe lediglich schnellen Schrittes … sehr schnellen Schrittes. Kurz bevor ich am Tor ankomme, realisiere ich die Lage, in der ich mich befinde: Der Hund ist schneller und ich werde entweder gleich gebissen oder freudig über den Haufen gesprungen. Auf keinen Fall werde ich rechtzeitig durch das Tor fliehen können. Tja, was soll man da noch machen? Ich ergebe mich daher meinem Schicksal – ging ja bisher immer ganz gut – und versuche Freund zu sein. Glücklicherweise funktioniert das auch direkt. Der Hund stellt sich als sehr netter Wachhund heraus, der mich nur als Gast höflich begrüßt. Dabei vermag er es aber zweifellos, dem Fremden Respekt einzuflößen. Alter Walter! Nach zwei Sekunden des: »Ja, fein. Guter Junge. Ja«, wundere ich mich selbst darüber, wie ich vor solch einem süßen und offensichtlich lieben Tier Angst haben konnte. Um dem zuckersüßen Moment noch die Krone aufzusetzen, schickt Mutter Natur plötzlich noch einen Kolibri in die herzzerreißende Szene. Kein Witz. Die alte Künstlerin schickt sich trotz des Gebells ihres Hundes indes nicht an, der Situation ebenfalls beizuwohnen. Dafür bellt nun ebenso der Hund des Nachbarn fleißig mit: »Hello Chloride! My name is Dennis Knickel. I just brought some noise to your peaceful paradise!«

Mit diesen Worten verabschiede ich mich von Chloride und düse los in Richtung meines letzten Punktes auf der Tagesordnung: dem Hoover Dam. Auf dass ich ihn noch vor Sonnenuntergang erreiche … Ich wage es zu bezweifeln. Ach ja, Chloride ist übrigens unfassbar cool. So klein der malerische und schrullige Ort auch sein mag: Hier hätte ich es problemlos mehrere Tage lang aushalten können.

Flagstaff – Route 66 – Chloride
300 Kilometer

Chloride

Quellen
Informationen zu Seligman und den Delgadillos: Wikipedia
Informationen zu Chloride: www.chloridearizona.com

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