Tag 80 – Teil 2: Der Hoover Dam und die traurige Ballade des jungen Ezana
Serendipity – Teil 2

Montag, 28. Januar 2013
Hoover Dam – Las Vegas
»Nope.«
Ein officer schaut noch schnell mit einem Spiegel unter den Wagen und das war’s. Leider werde ich noch darüber informiert, dass ich zu spät komme. Nicht nur, dass die Sonne bereits untergegangen ist, nein, im Dunkeln ist die Staumauer auch nicht begehbar. Lediglich auf den Parkplätzen hinter dem Wall dürfen Fotos gemacht werden. Na, immerhin darf ich über die Talsperre zurück nach Arizona fahren. Ach ja, der Hoover Dam ist gleichzeitig auch die Staatsgrenze zwischen Nevada und Arizona. Wenige Kilometer zuvor habe ich Nevada bereits auf der parallel zur Mauer verlaufenden Interstate betreten. Übrigens gilt in Nevada wieder die Pacific Time, was bedeutet, dass es eine Stunde früher ist als in Arizona. Dies ändert leider nichts am Stand der Sonne, höhö.
Eine kurvige Straße führt hinab in den Black Canyon, durch den sich die Talsperre zieht. Der Hoover Dam ist 221 Meter hoch und 379 Meter breit. Ich muss ehrlich gestehen, dass er mir wesentlich kleiner vorkommt, als ich ihn erwartet habe. Dies mag daran liegen, dass der Canyon recht schmal ist und ich auf meinem Weg hinab nicht die erhoffte Panoramaaussicht auf ihn offenbart bekomme. Vielmehr versuche ich so langsam wie möglich zu fahren und mich gleichzeitig so weit wie möglich aus meinem Sitz zu drücken, um über die Mauer möglichst tief in den Canyon hineinblicken zu können. Zunächst will es mir nicht wirklich gelingen und dann taucht hinter mir tatsächlich auch noch ein Wagen auf, dem mein Tempo zu lahm zu sein scheint. Als ich auf Höhe des Bauwerks ankomme, flankieren Schilder die Straße, die einem mitteilen, dass man gefälligst weiterfahren und nicht anhalten und aussteigen soll. Über solche Hinweise könnte man ja mal hinwegsehen … wenn an der Strecke nicht mehr als genügend Polizeiwagen positioniert wären. Also fahre ich weiter und übe mich nach wie vor im aus dem Sitz Drücken. Ein, zwei Mal funktioniert diese Taktik schließlich doch noch ganz gut und ich kann die komplette Mauer hinabsehen. Aber ich weiß nicht … irgendwie haut er mich noch immer nicht von den Socken. Vielleicht liegt es daran, dass ich gestern noch eine Meile in einen Canyon hinabsehen konnte oder sich das Bauwerk wegen Filmen wie »Auf der Flucht« mit Harrison Ford oder »Beavis und Butt-Head machen’s in Amerika« in meiner Vorstellung größer manifestiert hat. Oje, ich bin versaut. Was für ein absurder Gedanke! Ich fahre über eine Mauer, die fast 20 Meter höher ist als die Aussichtsplattform des Berliner Fernsehturms. Und über den staune ich heute noch! Außerdem haben die verrückten Amis die Mauer in den Lauf des Colorado River bereits in den 1930er gebaut: von 1931 bis 1935, um genau zu sein. Dahinter staut sich der Colorado River zum Lake Mead, Amerikas größtem Stausee, der Tiefen von mehr als 150 Meter erreichen kann und mit seinen 640 km² sogar noch einmal gut 100 km² größer als der Bodensee ist. Alleine welchem Druck muss die größte Staumauer ihrer Zeit demnach ausgesetzt sein?
Beim Überqueren der Talsperre ist es mir leider unmöglich, aus dem Auto heraus einen anständigen Blick über die Brüstung zu werfen. Die Krone der Stauanlage ist 14 Meter breit. 220 Meter unter mir beträgt die Dicke der geschwungenen Mauer unfassbare 200 Meter. Ich folge der Straße, bis ich 500 Meter später den ersten kleinen Parkplatz erreiche. Außer mir ist nur noch eine Gruppe Spanisch sprechender Touristen anwesend. Ich mache Fotos und nähere mich dabei langsam wieder dem Wall. Somit lenke ich die Aufmerksamkeit der Polizei auf mich, die gerade Patrouille fährt und mich unter spontanem Einsatz ihres Blaulichts und mit recht rüdem Ton dazu auffordert, mich nicht weiter der Anlage zu nähern, sondern wieder zurück zur Barriere zu gehen. Ich frage mich, wo hier eine Barriere sein soll, zeige mich aber devot kooperativ. Zusätzlich markiere ich noch den doofen Ausländer und frage mit aufgesetzt schlechtem Englisch, ob es nicht möglich wäre, kurz auf den …
»Back to the parking lot!«, bellt mich der Cop an. Schon gut, schon gut. Hab’s verstanden. Das Blaulicht hätten sich die Herren im Übrigen sparen können, da sie direkt neben mir halten. Was für eine Show. Die Legitimation liegt darin begründet, dass der Hoover Dam seit dem 11. September zu den gefährdetsten Objekten der USA gezählt wird. Denn neben seiner Funktion als Lebensquell ist der Wall ebenso Symbol amerikanischer Macht und Größe. Auch aus diesem Grunde wurde die Interstate als Umgehungsstraße errichtet. Die Straße, die über den Wall führt, ist heute eine Sackgasse. Der einzige Zugang zur Talsperre befindet sich in Nevada.
In den folgenden Minuten kommt es mir so vor, als hätten mich sämtliche Cops der Hoover Dam Police genau im Visier. Ich fotografiere und fotografiere, ärgere mich ein wenig, dass mir die spektakulärere Seite vorenthalten bleibt, und erfahre erst im Nachhinein, dass Besucher der Talsperre auch auf die Interstatebrücke gehen können. Dass diese für Fußgänger passierbar ist, wusste ich aber genauso wenig, wie sich mir erschloss, wie ich überhaupt auf den Parkplatz hätte kommen können, von welchem aus man als Fußgänger auf die Brücke gelangt. Sich die Mauer von dort aus anzugucken, dürfte, nach dem direkten Blick in die Tiefe von der Krone selbst aus, aber sicherlich das beste Bild abgeben.
Vom See sehe ich ebenfalls nicht viel. Das liegt weniger daran, dass er enorm an Tiefe verloren hat, was die von Mineralienablagerungen weiß gefärbten Felsen verdeutlichen, sondern daran, dass dieser erst hinter einer Kurve den Canyon verlässt, um sich in all seiner Größe aufzutun. Schön ist der Anblick der Staumauer von der Seeseite aus dennoch: Aus dem Wasser ragen vier Türme, die mal wieder des Amerikaners Vorliebe für Art déco unter Beweis stellen. Die Lichter der weißgrauen Staumauer lassen die schroffen Felsen des Canyons aufleuchten. Durch die Farbgebung des Walls und die Kurvatur wirkt der Hoover Dam in dieser Umgebung fast schon als zärtliches Gegenstück in die raue Landschaft gezeichnet. Die schöne Brücke der Interstate im Hintergrund und der famose Sternenhimmel tun ihr Übriges, um mich auch mit dem Ergebnis dieses Ausflugs zufriedenzustellen.
Da fehlen mir erst einmal die Worte. War das nun, ähm … liebevoll? Seine nächste Frage ist die nach meiner Herkunft.
»Germany, but they are not all like me«, versuche ich die Ehre meiner Landsleute zu retten. Ich habe mich nämlich offensichtlich nicht allzu beliebt gemacht.
»Oh yes, they are.«
Na super. Sorry. Es folgt natĂĽrlich eine Geschichte ĂĽber seltsame Deutsche: Einmal seien 40 deutsche Biker bei ihm angedonnert, von denen ein jeder fĂĽr lediglich einen, maximal zwei Dollar getankt haben soll. Mein Verhalten sei demnach typisch deutsch.
»We, the Americans«, führt er weiter aus, »made Germany again what it is today. We built it up again!«
Oje, worauf läuft das denn jetzt hinaus? Er erklärt mir, dass er – wäre er ein Land – Amerika den Krieg erklären, sich von den Staaten zerbomben und danach schön wieder aufbauen lassen würde. So liefe es doch ständig! Mir wird es langsam zu blöd. Hat er es am Anfang noch geschafft, mich selbst wie einen nörgelnden Doofdeutschen fühlen zu lassen, hat er es mit seinem verqueren Kriegs- und Geschichtsverständnis wieder eingerissen – oder besser: zerbombt. Was für ein Gelaber … und was für eine weitere coole Situation. Haha! Yeah!
Kaum hat man den Hoover Dam hinter sich gelassen, begegnet man in Nevada übrigens was? Genau: einem Kasino. Das Kasino irgendwo im Nirgendwo bietet kostenlose Zimmer für Truckfahrer und zwei Abendessen zum Preis von einem, wenn man Soldat ist. So sind sie, die Amis. Was die Amis tatsächlich ebenfalls machen, ist Musik im Radio zu zensieren. Jedes Mal wenn das schöne Wörtchen »fuck« erklingen müsste, wird durchaus geschickt, also nicht etwa mit einem dominanten Piepton, das böse, böse Wort ausgemerzt.
Wenige Minuten nach der Tankstelle durchfahre ich das Städtchen Boulder City. Boulder City wurde 1931 speziell für den Bau des Hoover Dam aus dem Boden gestampft. Da im Städtchen damals neben einer Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft auch Glücksspiel und Alkohol verboten waren, trug der Bau der Talsperre mit dazu bei, dass Las Vegas zu der Metropole wurde, die sie heute ist. Und bis heute ist Boulder City eines von nur zwei Städten in Nevada, in dem Glücksspiele verboten sind.
Hinter dem Ort geht es bergauf. Als ich die Kuppe ĂĽberschreite, tun sich mit einem Male die Lichter von Las Vegas vor mir auf und nehmen den kompletten Horizont ein. Was fĂĽr ein Anblick!
Aber Moment mal: Sollen das, laut einem Schild, an dem ich gerade vorbeigefahren bin, nicht noch 19 Meilen, sprich 30 Kilometer sein? Ich sehe deutlich den Stratosphere Tower und erkenne den kompletten Strip. Das können doch nie im Leben noch 30 Kilometer sein! 25 Kilometer später hat es Amerika wieder einmal geschafft, dass ich verwundert mit dem Kopf schüttle, denn ich fahre noch immer auf die Kulisse zu, ohne sie erreicht zu haben. Unglaublich. Außerdem fasziniert es mich ungemein, dass außer den Gebäuden des Strip Las Vegas wirklich komplett flach ist. Da ragt kein anderes Haus, kein Block oder Viertel weiter als vier Stockwerke nach oben – wenn es kein Kasino ist. Der Strip aber sticht heraus – und das ist ein sagenhaftes Bild.
Ich stelle das Auto am Flughafen in einer Reihe mit anderen Mietwagen ab. Sofort kommt ein Dollar-Angestellter und fragt nach dem Mietvertrag und den Schlüsseln. Natürlich schaut er sich das Auto flugs auf offensichtliche Schäden an und liest den Meilenstand ab. Ich bin in den letzten sieben Tagen – man möge sich festhalten – 1674 Meilen oder – metrisch – 2694 Kilometer gefahren. Wow! Ich halte mich nicht allzu lange mit der imposanten Zahl auf, da ich einen Plan verfolge: Ich frage den Mann, wo ich hingehen muss, um mich wegen der Abzocke bei der Abholung des Wagens zu beschweren. Er weist mir den Weg zum Büro, wo gleich die Hölle losbrechen wird. Ich will mein Geld zurück! Mal gucken, wie gut das funktioniert …
Ich befürchte einen heißen, teils unfreundlichen Schlagabtausch. Schließlich geht es um eine der blödesten Erfindung der Menschheitsgeschichte: Geld. Um den Dollar-Leuten gleich zu Beginn den Wind aus den Segeln zu nehmen, beschließe ich, einfach höflich und erschreckend cool, also möglichst stressfrei aufzutreten. Gleichzeitig demonstriere ich Selbstbewusstsein, was den Pennern Angst und Schrecken einjagen und mir folglich das zu viel abgeknöpfte Geld wiederbringen wird. Vielleicht gebe ich mich sogar als Autor von Lonely Planet aus und drohe mit Verriss. Ha, die haben keine Chance! Der Mann vom Parkdeck schickt mich genau an den Tresen, an dem ich letzte Woche den Wagen angemietet habe. Der Kollege, der meinen Mietpreis mal eben um über 100 % angehoben hatte, ist nicht anwesend. Stattdessen komme ich zu einem großen, muskulösen, schwarzen Teddybär. Mal im Ernst: Was soll denn jetzt die Scheiße? Hat der Mann vom Parkdeck etwa angerufen und gesagt: »Langhaariger Europäer mit Vollbart zwecks Beschwerde im Anmarsch. Stellt den Wellenbrecher auf!«
Ich will damit sagen, dass vor mir ein Mensch steht, bei dem die einen dahinschmelzen würden und die anderen eigentlich nur alles falsch machen können. Mit ihm anlegen? Vergiss es. Der Mann hat Unterarme wie andere Oberschenkel. Laut werden? Dafür hat er ein viel zu liebes Gesicht. Als er mich zur Begrüßung anlächelt, schmelze auch ich ein wenig dahin. Wie Schokolade in der Wüste … Womit wir automatisch beim nächsten No-Go wären. Ich frage ihn also, ob ich ihm nicht mal meine Schwestern vorstellen soll, kneife ihm in die Wange, lobe ihn für sein Work-out und haue irgendwie glücklich wieder ab. Denkste. Aber: pah, nicht mit mir! Ich widerstehe der fiesen Taktik und lächle mit Teddy um die Wette. Deine Zähne mögen weißer sein, dafür habe ich keine einzige Plombe. Ich schildere Adonis freundlich, aber bestimmt und mit einer Prise Genervtheit mein Problem und offenbare direkt mein Anliegen. Er lächelt weiter, zwinkert verständnisvoll mit einem Auge und lässt mich mit tiefer zarter Stimme wissen: »You better talk to the manager.«
Ich schaue ihn mit durchdringendem Blick an. Was kommt jetzt? Was hat das zu bedeuten? Wieso muss ich nicht nach und nach lauter und genervter werden und letztlich mit wutschnaubendem Blick und Faust auf den Tresen schlagend selbst nach dem Manager verlangen? Ich erkläre nur kurz, was los ist und zack: Der Manager nimmt sich Zeit für mich? Mit einem Male verdunkelt sich die Halle, der Tresen verwandelt sich in flüssige Lava und mit einem gellenden Schrei springt der Manager mit Hörnern auf dem Kopf vor mich. In seiner linken Brust klafft ein tiefes leeres Loch aus dem Blut in alle Richtungen spritzt.
»Linda?«, fragt plötzlich der schöne Schokobär – seit »Scrubs« dürfen Weißbrote das sagen. Das Licht der Halle leuchtet wieder normal und der satanische Manager verschwindet. Dafür öffnet sich eine neue Tür und eine sympathisch aussehende Frau Ende 40 kommt auf mich zu.
»Hi, I’m Linda«, begrüßt mich die Managerin freundlich. Linda ist extrem zuvorkommend, scherzt, lächelt und versucht erst gar nicht mit mir zu verhandeln oder sich herauszureden. Ich muss ihr lediglich erzählen, was passiert ist, dies danach schriftlich zu Protokoll geben und unterzeichnen. Sie gibt mir in allen Punkten, die ich angebe, recht: Es ist nicht preiswerter, sich den Tank von ihnen auffüllen zu lassen. Dass der Mann mir die Frage dreimal mit: »Yes, it is cheaper«, beantwortete, war schlichtweg falsch. Als ich ihn fragte, ob es irgendeine Möglichkeit gäbe, den Preis zu senken, antwortete er: »No chance«, was ebenso wenig stimmt, da man beispielsweise keine der Versicherungen abschließen muss, die er mir aufgebrummt hat. Wobei ich hier … nun ja … heute ein bisschen flunkere.
»You don’t need an extra insurance if you already have an international insurance«, erklärt mir Linda. »Do you have an insurance that covers car damages and accidents in other countries than Germany?«
»Uhm, yes. Of course I do.«
Natürlich habe ich keine solche Versicherung. Ich unterschreibe mein selbst verfasstes kleines Protokoll, gebe es Linda und zittere. Was, wenn sie nun meine Versicherung sehen will und ich nichts anderes als: »Well, uhm … hehe«, entgegnen kann. Glücklicherweise muss ich nichts vorzeigen. Weder jetzt noch irgendwann später. Da dem Wagen nichts zugestoßen ist, juckt es bestimmt noch weniger. Linda packt ihren Taschenrechner raus, tippt ein wenig und erklärt mir, dass sie mir leider nicht alles Geld rückerstatten kann. Was sie machen kann, ist, mir 228 Dollar zurückzugeben. Aus den 172 Dollar aus dem Internet wurden bei Abholung des Wagens 422 und nach meinem Gespräch mit Linda letzten Endes 194 Dollar. Damit kann ich leben. Sehr, sehr gut sogar.
»Wow, you made my day!«, bedanke ich mich überschwänglich und zudem äußerst übertrieben, da der komplette Tag auch vor Linda schon total super war. Linda und Teddy vom Kundenservice sind überdies einfach nur superfreundlich, was mein Bild von der Dollar Thrifty Automotive Group wieder gerade rückt. Man kann also doch bei dollar.com preiswert Autos mieten. Man muss nur ein wenig auf die Hintertürchen und Tricks der Verleiher achten. Zur absoluten Krönung kommt es, als ich eine Woche später feststelle, dass mir das Unternehmen aus unerfindlichen Gründen weitere 87 Dollar überwiesen hat, wodurch sich die einwöchige Miete des Wagens für gerade einmal 107 Dollar doch wirklich mehr als gelohnt hat. Don’t mess with Mr. Serendipity!
Mit dem Shuttlebus geht’s vom McCarran Rent-A-Car Center zum Airport. Ich bin der einzige Passagier im Bus, was den Fahrer dazu animiert, sich mit mir zu unterhalten. Er stammt aus Äthiopien und möchte wissen, aus welchem Land ich komme.
»Ah, Germany!«, antwortet er begeistert. Gerade heute hat er in seinem Psychologiekurs etwas über deutsche Kultur gelernt. Mein äthiopischer Busfahrer besucht Psychologiekurse, in denen man die deutsche Kultur analysiert? Wie cool ist der denn?
»So, what did you learn?«, möchte ich wissen.
»The differences between German and American culture.«
»What differences are there?«
Er erklärt mir, dass Amerikaner auf der Straße zu wildfremden Menschen: »Hi«, sagen, wohingegen man in Deutschland nur Leute grüßt, die man auch kennt. Ich stimme ihm zu und werde abermals wehmütig: Ich mag das. Aber in einer Woche grüßt mich keiner mehr auf der Straße. Der Busfahrer studiert die amerikanische Kultur seit acht Jahren, seit seiner Ankunft in Amerika. Dann ist die schöne Unterhaltung mit dem netten Kerl leider schon vorbei, da wir den Flughafen erreichen. Er zeigt mir noch, wie ich zu meinem Bus komme. Das heißt, er hupt und deutet in die andere Richtung als die, die ich gerade eingeschlagen habe.
Der Bus fährt nicht den Strip entlang, sondern irgendwo parallel dahinter. Abseits des Strip fällt mir nicht zum ersten Mal auf, dass es in Las Vegas eine Unmenge an Anwälten zu geben scheint. Nach den üblichen Gastronomie-, Hotel- und Kasinojobs muss das der Job schlechthin in Vegas sein. Die Stadt ist wahrhaftig zugepflastert mit Werbung für Advokaten. In Gegenden wie diesen ist die Dichte an Kanzleien zudem so hoch wie die von Kneipen in der Düsseldorfer Altstadt. Die Leute haben’s hier wohl nötig. Kaum ist der Gedanke zu Ende gedacht, sehe ich eine der stets erniedrigend ablaufenden Polizeikontrollen. Ein junger Kerl steht gefesselt und kerzengerade im Scheinwerferlicht des Polizeiwagens und darf sich nicht rühren, während die Cops seine Personalien checken. Es sieht absurd aus und die Handschellen sind vermutlich eine maßlos übertriebene Maßnahme. Dann doch lieber etwas Liebe: Die Viva Las Vegas Wedding Chapel wirbt damit, dass Erin Brockovich dort geheiratet hat, UB40 mal da waren und Elvis in the building is. Natürlich ist dies auch laut dominant angebrachter LED-Tafel die »Best Wedding Chapel in Las Vegas«. Von wem und wann das Zitat stammt, wird nicht eingeblendet. Neben den traditionellen Hochzeiten gibt es natürlich noch Themenhochzeiten, wie beispielsweise die Rocky Horror Wedding. Ja, ich würde auch gerne in Strapsen heiraten.
Im 7-Eleven kaufe ich mir etwas zu trinken. Als ich mich mit: »Have a nice evening«, verabschiede, antwortet die Verkäuferin: »You too, baby.«
Ich Tier.
Ich checke wieder im Hostel Cat ein und mache mir darüber Gedanken, was ich morgen machen könnte. Ich würde ja gerne ins Death Valley fahren. Aber wie komme ich da hin? Mit einem normalen Mietwagen ist es nahezu unmöglich, die von der Hitze aufgeplatzten Pisten des Nationalparks zu befahren. Ende Januar ist es dort zwar bei Weitem nicht so heiß wie im Sommer, die interessanten Straßen sind dennoch Gift für jeden Reifen. Ich könnte mir mit anderen Interessierten aus dem Hostel einen Geländewagen mieten. Die kosten aber auch gleich wieder eine gute Stange Geld. Das größere Problem dürfte derweil sein, jetzt am Abend, noch Menschen zu finden, die spontan genug sind, mitzumachen. Ich frage kurz in die Runde und erhalte nur Kopfschütteln als Reaktion. Ich sehe den Zettel, den ich vorige Woche ans Schwarze Brett gepinnt hatte, um Mitfahrer für meine ursprünglich routentechnisch etwas anders geplante Tour zum Grand Canyon zu finden. Da hatte sich auch nur einer gemeldet, was für mich mit Ausschlag gebend war, dass ich die Südtour über Yuma und Phoenix nach Flagstaff eingeschlagen hatte und nicht über Vegas gefahren bin. Leicht resigniert nehme ich den Zettel mit meiner Telefonnummer von der Pinnwand herunter. Das Death Valley kann ich mir abschminken. Mal sehen, ob mir noch etwas einfällt oder ob ich bereits morgen nach Los Angeles zurückkehren werde. Drei Tage habe ich noch zum Reisen, bevor ich ab 1. Februar für meine letzten vier Tage mit Chris am Drehbuch arbeiten werde. Cari empfiehlt mir nach meinen Lobeshymnen auf Chloride, noch einmal nach Arizona zurückzufahren und die Geisterstadt Jerome und das Minenstädtchen Bisbee aufzusuchen. Witzig. Jerome liegt bei Sedona und Bisbee schon fast in Mexiko.
»Why don’t you go to Mexico? Not enough time?«
Not enough time. Ach, ich würde liebend gerne noch drei weitere Monate dranhängen …
Heute wohne ich in Zimmer 4, in dem ich auf Jana aus Pforzheim treffe. Sie will heute zeitig schlafen gehen, da ihr Flieger morgen frĂĽh um vier Uhr geht. Na, dann gute Nacht. Ich breche auf in Richtung Downtown.
Cari hatte gestern ihren ersten Arbeitstag. Ich dachte, der wäre erst heute und bin froh, als sie mir erklärt, dass es deswegen länger dauerte, um auf meine Nachrichten zu antworten. Ich hatte bereits die Befürchtung, dass sie beginnt, eine gewisse Distanz aufzubauen.
»Well«, entgegnet sie, »I think we probably should start getting used to distance. We’re not going to be in each other’s lives really for a long time, so maybe we should start thinking of each other as past, and focus on the future, until we get a chance to meet again.«
Manchmal ist mir die Frau, die auf alles eine Antwort weiĂź, schon fast zu rational.
»The distance will come by itself«, antworte ich. »We don’t have to support it, I guess. And I still believe that one day our time will come. So, you’re not past but also future, I hope. Hopefully a future not too far away … Just don’t forget me. I will for sure never forget how happy I was with you.«
»You are impossible to forget!«
Kurz nach Mitternacht erreiche ich die Fremont Street Experience und sehe mit »Area 51« dieselbe Show wie schon einmal. Ich gehe in ein Kasino und verspiele einen Dollar, wofür ich eine Bloody Mary bekomme. Zwischendurch komme ich mal auf 2,55 Dollar, doch die Gier … die Gier. Danach gehe ich in die D Bar, ein Lokal, das man nur über eine Rolltreppe betreten kann. Allerdings geht diese nur in das Barkasino hinein. Wie man wieder herunterkommt, ist mir ein Rätsel. Also irre ich durch das Kasino und öffne aus Versehen eine Tür, die ich offensichtlich nicht öffnen durfte. Vermutlich ist es der Backstagebereich der sexy Tänzerinnen, die auf der Open-Air-Bar im Erdgeschoss tanzen. Also genau da, wo ich gerne hin möchte: ins Freie. Natürlich kommen in dem Moment, in dem ich mich in den Backstageflur verirre, zwei Sicherheitsmänner um die Ecke. Was für ein Timing. Ich bezweifle dennoch stark, dass sie so schnell wegen mir angerückt kommen. Bevor ich mit Gewalt des Ladens verwiesen werde, gehe ich direkt auf die Uniformierten zu und lasse mir verlegen grinsend von den beiden den Ausgang zeigen.
Ich verlasse die Fremont Street Experience und gehe über den Las Vegas Boulevard in den Fremont East District, wo ich im Salon of Beauty – ja, der Laden hat tatsächlich diesen bescheuerten Namen – die wahrscheinlich grässlichste Karaokesängerin aller Zeiten entdecke. Deswegen und weil der Laden echt prollig aussieht, betrete ich ihn erst gar nicht. Die Tür ist aber weit geöffnet und die Stimme so grausig, dass ich, wie bei einem Unfall, für den einen Song bewegungslos davor verharre. Herrlich. Als Nächstes gehe ich zum Triple B, dem Backstage Bar & Billiards, das sich selbst auch als: »Downtown Las Vegas’ Premier Rock and Roll Bar … with Balls!«, bezeichnet. Meine Fresse. Ich öffne die Tür und sehe in die geradezu erschreckten Gesichter der Barkeeper. Also mache ich die Tür wieder zu. So viel Buchstaben und leere Worte für eine Bar, die es schafft, mich noch in der Türschwelle wieder zum Umdrehen zu bewegen? Nun, es liegt immerhin primär nur daran, dass sich außer den Barkeepern und mir niemand anderes in dem doch recht großen Laden befindet. Das sieht also eher langweilig aus. Der Style ist zudem nicht so wirklich mein Ding – trotz Rock ’n’ Roll.
Hinter der 7th Street ist Downtown auch schon wieder vorbei. Zumindest befinden sich auf der rechten Seite nur noch Brachland und Baustelle. Nach einer allzu aktiven Baustelle sieht dieses Bauland allerdings nicht aus. Es stehen zwar ein paar Maschinen herum, die hingegen kaum ausreichen dĂĽrften, um hier ein weiteres Kasino-Hotel hinzuzaubern. Es ist also nichts los, weshalb ich beschlieĂźe, zum Hostel zu schlendern und ins Bett zu gehen.
»E – Z – A – N – A.«
Ja, ich weiĂź: Das ist geschickt. Ich bin nur froh, dass er nicht Joe heiĂźt.
Ezana und Mark haben Hunger. Als wir den 7-Eleven betreten, vor dem mich Jim Carreys böser Zwilling einst abholte, sieht es so aus, als hätten wir Las Vegas’ inoffizielles Obdachlosenasyl entdeckt. Der Kassierer steht recht entnervt hinter seinem Tresen, während vor ihm zwei Obdachlose einfach nur so dastehen und ein Dritter in seinem Rollstuhl sitzt und vor sich hin flucht.
Wir beschließen, uns gemeinsam ein Sixpack zu kaufen und gehen gegenüber zu Walgreens. Ezana ist noch keine 21, weswegen ich den Kauf abwickeln muss. Er will dabei unauffällig an der Seite stehen, was das Ganze jedoch auffällig macht. Wir kaufen ein Sixpack Blue Moon – laut Ezana Amerikas bestes Bier – und unterhalten uns im Hof des Hostels. Mark trinkt nicht mit und haut auch schnell wieder ab. Das Bier schmeckt übrigens nicht gut und Ezana ist ein weiterer Amerikaner, der staunt, als ich ihm erkläre, dass PBR Amerikas bestes Bier zu sein scheint. Abgesehen von der Bierphilosophie führen wir eine für diese Uhrzeit überraschend anspruchsvolle Unterhaltung über Gott und das Universum. Ezana überrascht mich. Nachdem er mir vor einer Woche nur ständig den Bart kraulen wollte, hätte ich nicht gedacht, dass der Junge so tiefgründig, intelligent aber auch melancholisch ist. Aus heiterem Himmel teilt er mir mit, dass er mein inner light sehen könne, was ziemlich beeindruckend sei. Das ist ein merkwürdig vertrauter Moment. Ezana führt weiter aus und erklärt, dass zwar jeder das Licht in sich trägt, allerdings nur wenige es zum Scheinen bringen können. Ich lächle geschmeichelt und weiß sofort, woran mich dieser Moment erinnert. Es ist wie damals, 2004, als Zohreh, die ältere iranische Hippiedame aus Hawaii, die mich beim Trampen mitgenommen hatte, mir den Auftrag gab: »Let your light shine in the world!«
Ein Satz, den ich mir vielleicht sogar ein wenig zu meiner Lebensphilosophie gemacht habe. Ich gebe mein Bestes. Ab und an scheint es zu funktionieren.
Ich möchte wissen, wer mein neuer Kumpel ist. Also erzählt er mir seine Geschichte: Ezana kommt aus Washington, D.C. und arbeitete vor Kurzem noch auf einem Ölfeld in Texas. Der Job sei super bezahlt worden, dafür körperlich ohne Ende anstrengend gewesen. Er hatte einen Vertrag für eine 28 Tage lange Schicht à zwölf Stunden unterschrieben. Die Kollegen seien krass drauf gewesen, was an der abartigen Arbeit und den äußeren Zuständen gelegen habe. Er lebte inmitten der Wüste in einem Trailer. Es sei bitterkalt gewesen. Ezana berichtet, dass man am Tage zwölf Stunden lang auf dem Feld ackert, am Abend in seinen Trailer kommt und den eingeatmeten Chemieschlamm der letzten Stunden heraushustet. Das kann nicht gesund sein, dachte er sich, brach nach 17 zermürbenden Tagen ab und floh regelrecht. Ein Kollege habe ihn nach San Angelo, die nächstgrößere Stadt, gefahren. Wenige Tage später habe er sein Gehalt bekommen und ist »somehow« nach Las Vegas gekommen. Irgendetwas muss Ezana auf dieser Reise passiert sein. Was es ist, will er mir nicht erzählen. Allerdings deutet er mehrfach an, dass etwas geschehen sei. So wie er es betont, wie er mitten im Satz stockt und nach einem Weg sucht, die Geschichte fortzuführen, ohne doch wieder auf diese Erlebnisse zu sprechen zu kommen, kann es nichts Gutes gewesen sein. Er tut mir leid. Auch, wenn ich nicht weiß, wofür ich ihn bemitleiden muss. Ezana ist einer von den Guten. So viel steht fest. Er wächst mir heute Nacht wirklich ans Herz. Er ist cool, smart, tiefgründig, offen und hat schon so einiges erlebt. Hier spricht einer aus Erfahrung, aus dem Herzen. In Vegas angekommen hat er sich zunächst ein Zimmer genommen und dann über Craigslist den Job im Hostel Cat bekommen. Wo er hin will und was er machen möchte, weiß er selbst noch nicht. Er sucht. Als er fertig ist, fügt er hinzu, dass seine Eltern stets an ihm zweifeln, was ihn sehr belastet und ein Grund dafür war, aus Washington abzuhauen. Er fragt mich, wie mein Verhältnis zu meinen Eltern ist. Ich erkläre ihm, dass meine Eltern mich voll unterstützen und ich sehr viel Liebe von ihnen erfahre. Ich sei ein glücklicher Mensch, sagt er. Da hat er wohl recht.
Fünf Wochen nach dieser Unterhaltung schreibt mir Chandler, der Besitzer des Hostels, dass Ezana ohne Vorwarnung abgehauen und verschwunden sei. Er glaubt gehört zu haben, dass Ezana einen neuen Job bekommen hat. Im Hostel soll er indes anderen seine Schichten aufgedrückt und jemandes Computer zerstört haben. Daraufhin habe er sich in seinem Zimmer eingesperrt, was recht seltsam gewesen sein soll: »Odd he was the one to make such a positive impression on you, but I’m glad he did. He’s a good kid otherwise, I suppose.«
Ich hoffe, ihm geht’s gut.
Als ich zurück ins Zimmer komme, ist darin noch absolute Partystimmung. Die Jungs im Zimmer sind am Feiern und machen bei eingeschaltetem Licht ordentlich Krach. Seltsam, dass wir im Hof davon gar nichts mitbekommen haben. Das Mädel aus Pforzheim liegt sehr müde, aber nicht genervt aussehend, im Bett. Dass die Jungs Partytiere sind, hatte sie mir bei unserer Unterhaltung direkt nach meiner Ankunft im Zimmer bereits erzählt. Gestern Nacht war es wohl schon genauso. Man teilt mir mit, dass mein Bett verflucht sei. Derjenige, der darin schläft, müsse saufen ohne Ende. Aha. Als ich kurz aufs Klo gehe, liegen auf einmal alle in ihren Betten. Hä? Abkacker. Da ich das Bett direkt neben Tür und Lichtschalter habe, werde ich gebeten, das Licht auszuschalten. Im Dunkeln gehen die Unterhaltungen weiter. Ich verstehe aber nichts. Also melde ich mich verärgert zu Wort und teile den Jungs mit, dass der größte Fluch dieses Bettes wohl der ist, dass es sich direkt neben der lauten Heizung befindet und man daher kein Wort von dem versteht, was im Raum gesprochen wird. Mit einem Lacher endet dieser vollkommen coole Tag …