Tag 81: Du sollst den Tag nicht vor dem Abend loben …

Serendipity – Teil 2

2013 01 29 22.44.47 Ausschnitt

Dienstag, 29. Januar 2013
Las Vegas

Als ich am Morgen aufwache, versuche ich, das Gesicht ins Kissen gedrückt und mit einer Hand suchend, saubere Unterwäsche in den Tiefen meines Rucksacks zu finden. Die Suche nach einer sauberen Unterhose verläuft zunächst erfolglos, dafür stoße ich aber auf etwas, das ich im Leben nicht in meinem Gepäck vermutet hätte. Ich taste mich blind durch den Rucksack, als ich auf einmal etwas flaches Rechteckiges in der Hand halte. Das ist doch …? Nein, das kann nicht sein. Ich ziehe die Hand aus meinem Rucksack, drehe meinen Kopf auf die Seite und zwinge mein rechtes Augenlid nach oben. Nein, nein, nein! Es ist tatsächlich … mein iPod! Unfassbar. 19 Tage, 19 Tage lang bezichtige ich im Geiste Starbucks-Angestellte oder böse Mitmenschen des Diebstahls. Stattdessen trage ich meinen iPod die gesamte Zeit über im Rucksack spazieren! Aber es kommt noch besser: Direkt neben meinem iPod spüre ich Plastik. Es fühlt sich an wie eine zerrissene Plastiktüte, die um etwas gewickelt ist. Der Plastikball ist klein, wiegt kaum etwas. Hä? Wieder ziehe ich meine Hand aus dem Rucksack, öffne mein rechtes Auge und stelle fest, dass ich einen Klumpen Gras in der Hand halte. Yeah, yeah, yeah! Kann ein Tag denn besser beginnen? Haha! Unglaublich! Nachdem ich in Gedanken laut jubelnd durchs Zimmer gehüpft bin – für wahre körperlich emotionale Ausbrüche bin ich noch viel zu müde –, beruhige ich mich wieder, lege mich auf den Rücken und überlege: Woher um alles in der Welt kommt der Klumpen Gras? War es ein Geschenk von Connor aus Eureka? Hat mir Leo in Seattle was zugesteckt? Ford? Ein Fremder, als ich in Hollywood auf der Straße gepennt habe? Ich habe absolut keine Ahnung, wo das Gras herkommt. So vertrocknet wie es aussieht, liegt es schon eine ganze Weile im Rucksack.
Apropos bescheuerte Geschichten: Brian, mit dem ich übrigens nahezu täglich in Kontakt bin, meldet sich mit einem neuen freakigen Plan. Er schaut sich noch immer Grundstücke an, mittlerweile zwischen San Jose und Santa Cruz. Jetzt hat er eins gefunden, das sich in einem Redwood-Wald befindet. Ich soll mich melden, falls ich einen Film mit Ewoks oder Hobbits drehen möchte. Er selbst möchte dort eine Baumhaussiedlung errichten. Also lasse ich Cari, die Brian immer etwas kritisch gegenüberstand, wissen, dass sie sich besser mit ihm anfreunden sollte. Das hippe Hippiemädchen träumt nämlich davon, in einem Baumhaus zu leben. Sie bezweifelt sowohl, dass sie und Brian Freunde werden als auch die Tatsache, dass Brian diesen Plan zur Abwechslung mal in die Realität umsetzt. Nach meinen Erfahrungen mit Brian bezweifle ich dies ebenfalls: »I also don’t believe in it as he’s changing his plans more often than his underwear, I’d say.«
»Is that a German expression or are you just a genius?«
Okay, das ist also keine übliche Redewendung in Amerika.
»Genius, baby.«
Ich freue mich dennoch über die Neuigkeiten. Hm, jetzt fragt er mich, ob Zentauren ebenfalls nur auf drei Monate beschränkte Visa bekommen. Da ist heute wohl jemand gut drauf? Dito! Und mit der Überzeugung, dass dieser Tag glorreich wird, begebe ich mich zum Frühstück in den Aufenthaltsraum. Die große Tafel ist voll und international besetzt. Ich frühstücke unter anderem mit einem Brasilianer, einem Afrofranzosen, einer Ungarin, einem vermutlich aus Japan stammenden Amerikaner, einer Australierin, einem Israeli und dem Yankee, der schon letzte Woche da war und es »so wrong« findet, dass Justin Bieber jetzt einen auf 2Pac macht. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Fürs Death Valley kann ich auch beim Frühstück niemanden begeistern und alleine ist es mir zu teuer, einen Truck zu mieten oder gar eine Tour zu buchen.
Wie bereits erwähnt, benötige ich frische Unterwäsche. Hm, Waschen kostet im Hostel Cat ganze drei Dollar und der Trockner noch einen zusätzlichen. Da mir außer dem Death Valley kein anderer Plan für den heutigen Tag einfällt und meine Wäsche irgendwann von der Waschmaschine in den Trockner und dann in meinen Rucksack gepackt werden muss, beschließe ich, heute einen ruhigen Tag einzulegen und einfach nur zu schreiben. Heute Nacht werde ich dann den Megabus nehmen und nach Los Angeles abhauen.
Leo textet mir, fragt, wie’s mir geht und erzählt, dass er seitdem ich Seattle verlassen habe, ständig Zwillinge von mir trifft. Na, toll. Es lebe die Einzigartigkeit. Außerdem, fügt er an, wird jedes Mal, wenn er an mich denkt, von mir redet oder mir schreibt, plötzlich ein Song von Guns N’ Roses im Radio gespielt. Das war meine Band, als wir als Zwölfjährige gemeinsam zur Schule gingen. Yeah, Baby!
Der Abschied aus dem Hostel fällt mir heute nicht schwer, da derzeit ein paar ziemliche Vollpfosten hier sind: Der Brasilianer und der schwarze Franzose labern nur Scheiße und versuchen mich bei ihrem Abendessen zu provozieren, weil ich den kompletten Tag vorm Rechner sitze und daher wahrscheinlich den Eindruck des langweiligen Nerds mache. Allerdings sind sie zu blöd dafür.
Nach getaner Arbeit möchte ich mir irgendwas Essbares für die Mikrowelle kaufen. Ich habe keine Lust auf richtiges Kochen. Außerdem dürfte ich schon gar nicht mehr im Hostel sein, da ich keine weitere Nacht mehr bleiben werde. Glücklicherweise sehen Chandler & Co. das aber sehr locker und sprechen mich noch nicht einmal darauf an, dass ich eigentlich schon seit elf Uhr gar nicht mehr hier sein dürfte. Ich verlasse also das Hostel in Richtung Walgreens und knalle dabei um ein Haar dem Justin-Bieber-Hasser die Tür an die Nase: »Oh man! That’s number three already today. It has to be something magic!«
Klingt für mich eher so als sollte er heute unbedingt zu Hause oder gar im Bett bleiben. Der Mann lebt heute offenbar gefährdet.
Obwohl die Mikrowellennudeln von Barilla sind, schmecken sie einfach nur scheußlich und erinnern mich an die zwei Gründe, weswegen ich mir auf meiner Reise nie im Hostel Essen gemacht habe: Zum einen ist es verdammt schwer überhaupt an anständiges Essen heranzukommen, da es meistens schlicht keine Supermärkte in der Nähe gibt. Märkte wie 7-Eleven oder Walgreens bieten nur Junkfood an und anständige Shops befinden sich in der Regel in weit entfernt liegenden Malls oder sind so selten vorhanden, dass man sich erst einmal einen halben Tag lang auf die Suche machen müsste. Der zweite Grund für meine Kochfaulheit sind die Preise. Im Supermarkt ist es nicht wirklich preiswerter als in Restaurants. Ich spare mir zudem den Stress, in einer Gemeinschaftsküche herumzufuhrwerken und bekomme mein Essen sogar serviert.

Von Ezana habe ich heute seltsamerweise rein gar nichts gesehen oder gehört, wodurch es auch zu keiner Verabschiedung kommt. Schade. Dafür verabschiedet sich plötzlich jemand, von dem ich es zwar bereits befürchtet, aber eigentlich nicht mehr erwartet habe: Ich habe Chris gefragt, ab wann ich bei ihm in Los Angeles unterkommen kann oder ob er, jetzt da ich zwei Tage früher komme, mir eine andere Übernachtungsmöglichkeit organisieren kann. Seine Antwort auf diese SMS lässt mir die Zornesröte ins Gesicht steigen. Sie lautet nämlich, dass ich gar nicht zu ihm kommen kann. Weder morgen noch übermorgen und auch nicht zu unseren fest vereinbarten und als garantiert deklarierten Terminen. Der gute Chris hat heute einen Job bei einem Dreh angenommen und ist bis zum 8. Februar nicht in Los Angeles. Ich fliege bekanntlich am 5. nach Deutschland zurück. Das alles schreibt er mir so, als sei dies überhaupt kein großes Ding. Er witzelt sogar noch ein wenig herum. Wir können ja mailen und skypen, außerdem würde er sich zur Not sogar wieder bei Facebook registrieren. What the fuck? Kapiert dieser Arsch denn nicht, dass er mein einzig legitimer Grund war, Deutschland für drei Monate zu verlassen? Wir wollten ursprünglich mal einen Monat lang zusammen am Konzept und Drehbuch unseres Films arbeiten! Und jetzt sägt er mich einfach komplett ab? Was für ein Penner. Ich rege mich furchtbar über diesen Ignoranten auf. Außerdem hätte er mir seine Entscheidung gegen den Film sicherlich schon früher mitteilen können. Dann hätte ich meinen Trip anders planen können, hätte mir womöglich mehr Zeit für Arizona gelassen. Und was mache ich jetzt? Ich habe mir überhaupt keine Gedanken darüber gemacht, bis zu meinem Abflug irgendetwas anderes als Filmarbeit zu machen. Naja, im Grunde genommen muss ich nicht groß nachdenken, was ich mit der unverhofft gewonnenen Reisewoche anstellen soll, denn Ideen, um diese Reise auf Jahre zu dehnen, habe ich zur Genüge. Ich werde wohl an die Küste – nach Santa Barbara – fahren und dort endlich einmal tauchen gehen. Vielleicht mache ich auch Whale Watching oder traue mich sogar Fallschirm zu springen. Auf jeden Fall werde ich aller Voraussicht nach zu viel Geld ausgeben. Yeah! Ich denke aber, dass Sonne, Strand und Abenteuer eine gute Lösung sein dürfte, um mich die komplette letzte Woche nicht über Chris aufzuregen. Ja, ich sollte es positiv sehen: Ich habe vier Reisetage gewonnen! Rock und Roll!

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Mein Megabus startet nachts um halb eins. Als ich mich zu später Stunde zum Flughafen aufmache, stelle ich fest, dass der Bus der Linie SDX – anders als der Deuce – herzlich wenige Stationen anfährt und dementsprechend schnell zum Flughafen gelangt. Das bringt die Nachteile mit sich, dass ich länger am Airport stehen muss und dass das Ticket sechs anstelle von zwei Dollar kostet. Sechs Dollar für eine Fahrt zum Flughafen? Der Megabus von Vegas nach L.A. kostet mich gerade einmal 12,50 Dollar. Na, da fahre ich doch besser schwarz.
Als ich viel zu früh am Terminal ankomme, fällt mir wieder ein, wie glorreich dieser Tag begann. Also packe ich meinen iPod aus … und stelle fest, dass ich meine Kopfhörer im Hostel liegen gelassen habe. Das kann doch nicht wahr sein. Ich bin verflucht.

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