Tag 82: Fuck You, Chris!

Serendipity – Teil 2

2013 01 30 12.14.27

Tag 82: Mittwoch, 30. Januar 2013
Las Vegas – Los Angeles – Santa Barbara

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Der Bus kommt am frühen Morgen an der Union Station an. Wir erreichen Los Angeles sogar noch früher als geplant, da niemand beim planmäßigen Zwischenstopp Riverside aus- oder zusteigen wollte. Der Stopp wurde demnach einfach übersprungen. Ich gehe zu Starbucks, um zu checken, was ich als Nächstes machen werde. Auf Los Angeles habe ich keine wirkliche Lust: Die Stadt konnte mich nicht vollends überzeugen und ich würde mir vermutlich die nächsten Tage nur noch über Chris Gedanken machen. Nein, es ist wirklich besser, wenn ich woanders hinfahre. Meine gestrige Idee, nach Santa Barbara zu fahren gefällt mir auch am frühen Morgen noch gut. Santa Barbara ist nicht weit, rund 150 Kilometer, ich kenne es noch nicht und es klingt nach Urlaub. Nur dumm, dass sich kein einziger der Couchsurfer, die ich gestern noch angeschrieben habe, zurückmeldet. Ein Ticket nach Santa Barbara kostet normalerweise 30 Dollar. Um zehn nach zehn fährt aber ein Zug, der nur 19 Dollar kostet. Optimal. Ich bestelle mir ein E-Ticket. Das ist preiswerter. Nur habe ich keinen Drucker. Also gehe ich zum Amtrak-Ticketschalter und erkläre mein Problem. Kein Ding. Sekunden später halte ich ein frisch gedrucktes Ticket für den Coast Starlight in der Hand. Ich frage, wo der Zug eigentlich abfährt. Ein Fahrplan wie man ihn aus Deutschland kennt, hängt nirgends. Die Amtrak-Dame sagt, ich solle mich in die Lobby setzen und die Anzeigetafel im Auge behalten. Ungefähr eine Stunde vor Abfahrt sollte der Zug ein Gleis zugewiesen bekommen.
Ich gebe Ford Bescheid, dass ich für kurze Zeit in der Stadt bin. Leider ist er zu weit weg, um schnell vorbeizukommen. Wir sehen uns aber auf jeden Fall noch einmal, bevor ich in den Flieger steige. Ich mache mich auf die Suche nach Frühstück, was zu dieser Zeit nicht ganz einfach ist. Gegenüber der Union Station befindet sich der hübsche Los Angeles Plaza Historic District oder auch kurz und knackig El Pueblo. Dies ist das historische Zentrum der Metropole, in dem auch das älteste Gebäude der Stadt, das Avila Adobe, zu finden ist.

<center>El Pueblo</center>
Das unscheinbare Lehmhaus wurde um 1818 erbaut und steht in der Olvera Street, einer gemütlichen Gasse mit alten Backsteinhäusern, durch die sich ein mexikanischer Markt mit vielen bunten Holzbüdchen zieht, die um diese Uhrzeit leider noch geschlossen haben. Das Herz des historischen Los Angeles, das 1780 gegründet wurde, bildet The Plaza, ein ganz netter kleiner Platz, in dessen Mitte ein Pavillon installiert wurde, der heute noch für Veranstaltungen genutzt wird.


<center>Antonio Aguilar, »El Charro de México«</center>
Östlich der Plaza steht eine bronzene Statue Antonio Aguilars und seines Pferdes. »El Charro de México«, der mexikanische Cowboy, lebte von 1919 bis 2007 und war Musiker, Autor, Schauspieler sowie Filmproduzent. Ich muss gestehen, dass ich noch nie etwas von ihm gehört habe. In Mexiko muss er aber eine große Nummer gewesen sein, was 25 Millionen verkaufte Platten bei wohlgemerkt 150 Alben beweisen. Er spielte mit John Wayne und Rock Hudson und tourte durch die Welt. Seine Shows waren dabei eine Mischung aus Konzert und Reitshow mit Cowboys und tanzenden Pferden. Er ist der einzige lateinamerikanische Künstler, der es fertigbrachte, den Madison Square Garden in sechs aufeinanderfolgenden Nächten auszuverkaufen und war einer der ersten Mexikaner, der mit einem Stern auf dem Walk of Fame bedacht wurde. Ich lese weiter auf der Gedenktafel und meine mehr und mehr, dass ich solch einen Mann eigentlich kennen sollte. Jetzt wird’s nämlich erst so richtig aufregend: Der gute Toni verbrachte drei seiner ersten Nächte in der »Stadt der Engel« obdachlos auf der Straße. Na, wie ich! Wenn das mal kein gutes Zeichen ist. Er verbrachte seine Nächte allerdings hier, im historischen Viertel, in dem offenbar heute noch viele Neuankömmlinge ihr Glück in Los Angeles beginnen möchten. Zumindest liegen auf der Wiese gegenüber einige Männer mit Decken und Einkaufswagen.

Ich frühstücke bei Subways und sehe einen hoch professionellen Werbefilmdreh vor dem Bahnhof. Viel zu sehen gibt es aufgrund der Security aber nicht. Berühmte Darsteller soll es keine geben, behaupten sie. Also setze ich mich in die Lobby vor die Anzeigetafel. Während ich so dasitze und warte, kommt auf einmal ein Kerl auf mich zu, der nur wenige Jahre jünger als ich sein dürfte. Kaum sitzt er neben mir, teilt er mir mit, dass er meinen Bart mag: »Most people don’t appreciate a good growing beard.«
Ich lach’ mich schlapp. Mein Bart muss ja wirklich prächtig aussehen. Ständig diese (vermutlich) nicht-homoerotischen Komplimente vom gleichen Geschlecht … Also gewohnt bin ich das nicht. Ich wusste noch nicht einmal, dass heterosexuelle Männer anderen Männern Komplimente bezüglich des Aussehens oder Styles geben. Wir kommen ins Gespräch. Er möchte wissen, mit welchem Zug ich fahre.
»Coast Starlight«, antworte ich, zeige auf die Anzeigetafel, auf der noch immer kein Gleis angezeigt wird, und erkläre ihm, dass dieser Zug offensichtlich in der Lobby abfährt. Daraufhin lacht plötzlich der Mann, der links neben mir sitzt. Er will auch mit dem Zug fahren, der übrigens bis nach Seattle hinauffährt. Hm, soll ich noch mal schnell in Portland vorbeischauen? Die einfache Fahrt dauert über 29 Stunden … Das wird nichts.
Die Anzeigetafel spricht zu uns! Erst wenige Minuten vor der Abfahrt erscheint endlich die Gleisnummer. An der Zugtür steht der Schaffner, kontrolliert die Tickets und verteilt Sitzplatznummern. Faszinierend. Ich weiß nicht, ob ich wegen des Schaffners vom Gleis noch irritiert bin oder ob die Schaffnerin im Zug ebenfalls mit ihren Gedanken gerade woanders ist. Auf jeden Fall werde ich fast von ihr umgerannt. Dabei ruft sie ein lustiges: »Whoops!«, aus und schiebt diesem direkt ein: »What is your seat number?«, nach.
»Eleven.«
»This way.«
Ich setze mich auf den von der Schaffnerin zugewiesenen Platz, als plötzlich zwei Polizisten anrücken, die jeden einzelnen Fahrgast fragen, wohin es denn gehen soll. Das finde ich befremdlich. Immerhin lächeln die Cops dabei und wirken eigentlich eher wie Animateure und weniger wie die Staatsgewalt. Ich komme an die Reihe.
»Oh, Deutschländ!«, ruft der männliche Cop freudig durch den kompletten Waggon. »I’ve been living in Idar Oberstein for seven years.«
»Nice, that’s close to where I’m coming from«, gebe ich zurück.
»Really?«
»Yeah, and Bruce Willis was born there.«
Der dicke Cop lacht laut auf und erzählt mir daraufhin vom Kebab, den er so lecker findet. Er war auch mal in Kurdistan, dort sind die Döner aber anders, nicht so gut. Klar, der Döner kommt ja auch aus Berlin. Ich erzähle ihm die Geschichte, die ich irgendwann einmal aufgeschnappt habe – und ehrlich gesagt nicht weiß, ob sie überhaupt stimmt. Es ist aber eine ulkige Anekdote: Ein japanischer Tourist soll sich so sehr in Döner verliebt haben, dass er in Japan eine Kebabkette eröffnete und nun Döner als deutsche Delikatesse verkauft. Die Kollegin des Dicken will mitreden und teilt uns allen mit, dass ihre Schwägerin ebenfalls aus Deutschland kommt: »She’s from Ham-something … Hamburg
Interessanterweise kennen viele Amis die Hansestadt nicht. Zumindest ist dies nicht das erste Mal, dass ein Ami »Hamburg«, nicht aussprechen kann und sich so verhält, als habe er oder sie noch nie etwas davon gehört. Oder liegt es schlicht daran, dass sich die Amerikaner nicht vorstellen können, dass es eine Stadt mit solch einem komischen Namen gibt? Heißen die Nachbarorte »Cheeseburger« und »Hotdog«? Der dicke Cop beendet fast schon enttäuscht den Plausch mit mir, da man nun weiter müsse. Außerdem ist er hungrig. Seit einer Woche muss er nun schon diese vegane Diät machen und verliert ein Pfund nach dem anderen. Kann ihm nicht schaden, denke ich mir.
Auf der anderen Seite des Ganges sitzt eine asiatisch aussehende Amerikanerin, die mich auf einmal anspricht. Sie ist ebenfalls auf dem Weg nach Santa Barbara, zieht aber bald nach Frankfurt, um Deutsch zu lernen. Da sie ständig auf Deutsch singt, müsse sie die Sprache auch sprechen können, meint sie. Ich frage sie, ob sie eine Opernsängerin ist. Volltreffer. Jetzt hat sie eine Audition an der University of Southern California, bleibt kurze Zeit bei einer Freundin und haut dann wieder zum nächsten Vorsingen ab. Die Stimme des Bistrobosses ertönt aus den Lautsprechern und erklärt die Regeln des Zugs. Die Sprache des Chefkochs ist entspannt und cool. Jedes dritte Wort ist »folks«: »If you folks go to the toilet, please wear your shoes. It’s for your own safety, folks. Folks, if you need something to drink …«
Den nächsten Auftritt hat wieder die Schaffnerin, die sich nun jedem Einzelnen vorstellt, fragt, ob man schon einmal mit einem Amtrak-Zug gefahren ist und einem dann erklärt, wo man was im Zug findet. In Amerika fahre ich wirklich gerne mit dem Zug. Das ist pures Entertainment, gepaart mit Service und Freundlichkeit.
Der Zug setzt sich in Bewegung. Ich habe schon letzte Nacht im Bus darüber nachgedacht, wie ich auf Chris’ respektlose Ausladung reagieren soll. Ich denke, dass ein gewisser Sarkasmus nicht unangebracht ist. Daher schreibe ihm, dass ich mich schon darauf freue, all jenen, denen ich als einzige wahre Legitimation für diese Reise erzählt habe, dass ich wegen eines Filmprojekts in die Staaten fliege, zu erklären, dass ich am Ende keinen einzigen Tag daran gearbeitet habe, sondern einfach ausgeladen wurde. Ich schreibe ihm auch, dass ich sein Verhalten als sehr respektlos und unehrlich erachte. Einen auf Feuer und Flamme machen und dann wegen eines spontan dazwischen kommenden Jobs den Typen, der extra deswegen aus Deutschland angereist ist, sitzen zu lassen. Das hat schon was: »I’m impressed«, beende ich den Text zynisch. Kurz darauf klingelt mein Telefon – und hört damit auch so schnell nicht mehr auf. In 15 wütenden Nachrichten lässt Chris Sachen vom Stapel, die mich ehrlich gesagt an seiner mentalen Stabilität zweifeln lassen. Ich sei »pushy as hell« und – wenn er ehrlich ist – außerdem eine Art Tyrann. Es sei unverschämt, dass ich es mir erdreisten würde, ihm großkotzig eine Lektion in »Respekt« zu lehren. Ganz sicher werde er wegen irgendwelcher halb garen Ideen seine bezahlten Jobs nicht sausen lassen: »Give me a fucking break!«
Er kotzt weiter, dass er kein Teil irgendeines Kollektivs sei und mir rein gar nichts schulde – schon gar nicht aus Gründen der »Ehrlichkeit« und des »Respekts«. Es geht damit weiter, dass er darüber philosophiert, dass das Leben zu kurz sei. In welchem Zusammenhang das mit seinen vorigen Aussagen steht, bleibt mir ein Rätsel. Nach dieser Logik würde ich nämlich eher ein Projekt angehen, bei dem ich der Regisseur bin und keines, das mich bei dem, was ich eigentlich machen möchte, überhaupt nicht weiterbringt. Egal. Er freut sich ironisch für mich, dass ich es mir offensichtlich erlauben kann, aus einer Laune heraus drei Monate abzuhauen und zudem anscheinend weltfremd genug bin, um echten Arbeitern einen Vorwurf zu machen: »I’m sorry I have to work. I’m sorry I didn’t tell you to fuck the hell off when you first started emailing me your inchoate nonsense. I’m sorry I ever tried to take it seriously or engage with it at all or see some hope for it ever going anywhere. There. Is that ›impressive‹? Hope so. Best of luck.«
Was für ein Arschloch. Aber ist das nicht wieder hochgradig amüsant? Gestern noch erzählt mir Ezana, dass ich ein bright shining inner light habe und heute muss ich mir anhören, dass ich ein bully bin. Willkommen in der verrückten Welt des Dennis Knickel! Es können einen nun mal nicht alle lieben. Ich antworte Chris, dass seine Nachrichten tatsächlich »impressive« sind und er bewiesen hat, dass er tatsächlich keine Ahnung zu haben scheint, was Respekt und Ehrlichkeit bedeuten. Es wäre ehrlich gewesen, mir von der ersten Mail an zu sagen, dass das Projekt nichts für ihn ist. Er reagierte seinerzeit jedoch exakt gegensätzlich, voll Begeisterung für die Sache. Ich habe mir damals auch von ihm versprechen lassen, dass wir Zeit haben werden, um am Projekt zu arbeiten. Er gab mir das Versprechen, kündigte aber nur einen Tag nach meiner Buchung bereits an, dass aus den vier Wochen nur zwei werden, da er einen Job bekommen hat. Pech, dachte ich mir damals und ging davon aus, dass man in drei Monaten durchaus mal einen Termin finden wird, an dem es möglich ist, gemeinsam zu arbeiten, um aus einer halb garen Idee ein funktionierendes Projekt zu machen. Natürlich ist es jetzt noch nichts. Genau deswegen bin ich doch gekommen! Fängt so nicht jedes Projekt an? Als lose Idee? Da Chris zu denken scheint, dass ich ein reicher Mann bin, erkläre ich ihm, dass ich meine Wohnung zwischenvermietet habe, um mir den Trip überhaupt leisten zu können. Darüber hinaus renne ich mit T-Shirts umher, die mich in Thailand keine zwei Euro gekostet haben, und meine einzigen zwei Schuhe trage, die mittlerweile so durchlöchert sind, dass sie schon bald als Sandalen durchgehen werden. Ich versäume es nicht, ihn noch einmal daran zu erinnern, dass ich in den letzten drei Monaten immer kostenlos bei irgendwem auf der Couch, selten einmal in einem Hostel und ab und an sogar auf der Straße genächtigt habe. Letzteres, merke ich an, in seiner Heimatstadt. Würde mir ein Bekannter in Berlin begegnen, hätte ich ihn im Leben nicht wissentlich auf der Straße pennen lassen. Ich wundere mich darüber, dass er die Idee eines künstlerischen Weltkollektivs zu Beginn euphorisch gefeiert hat und nun darauf besteht, nie ein Teil dessen gewesen zu sein. Ich informiere ihn, dass ich sehr wohl auch ein wenig gearbeitet habe. Schließlich schreibt sich so ein Reisebericht nicht von selbst. Und ja, das Leben ist zu kurz. Deswegen versuche ich ja, Projekte, die mir wichtig sind, zum Laufen zu bringen. Ich frage ihn, ob ich ihm nach seiner Anschuldigung faul und weltfremd zu sein, wirklich noch erklären muss, weshalb ich mich respektlos behandelt fühle. Womit nimmt er sich das Recht heraus, mich zu beleidigen? Habe ich ihn jemals in eine schlechte Situation gebracht? Natürlich dränge ich ein wenig. Schließlich habe ich ein Ziel vor Augen. Ich hätte genauso gut in Deutschland bleiben können und mir bezahlte Jobs organisieren können. Ich will aber dieses Projekt in die Tat umsetzen. Ein gewisses Risiko gehört da meiner Meinung nach genauso dazu wie Kommunikation. In den letzten drei Monaten habe ich ihm in meinen Augen seinen »fucking break« gegeben. Oder sind drei Mails in drei Monaten wirklich so »tyrannisch«? Ich schreibe, dass ich sein aggressives Verhalten in keiner Weise nachvollziehen kann. Wenn einer von uns beiden das Recht hat, angepisst zu sein, dann gewiss nicht er. Ich beende meine … oh, 18 Textnachrichten, indem ich leicht resignierend bemerke, dass er mich vermutlich schlicht und ergreifend einfach nicht mag. Vielleicht, so mein letzter Satz, sollte er »aus einer Laune heraus« einfach mal Urlaub machen … damit er mal etwas entspannen kann. Ich werde nie wieder etwas von Chris oder seiner Produzentin und Freundin Grace hören.
Meine Entscheidung, ans Meer zu fahren, zahlt sich nach der gegenseitigen Abrechnung sofort aus. Ich lehne mich zurück und genieße den Ausblick aus dem Fenster, anstatt mich noch weiter über Chris aufzuregen. Seit Oxnard fährt der Zug direkt an der Küste entlang. Rechts die hügelige Landschaft Kaliforniens, links der Ozean. In der Ferne ragen die Channel Islands aus dem Meer, hier und da sitzen Surfer im Wasser auf ihren Brettern und auf den vielen Erdbeerfeldern, die sich neben der Schiene auftun, wird fleißig gepflückt. Zwischendurch riecht es sogar im Zug nach Erdbeeren. Kein Wunder, dass diese Route als eine der schönsten Zugstrecken des Landes gilt.

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Nach nicht ganz zweieinhalb Stunden erreichen wir Santa Barbara.

Las Vegas – Los Angeles – Santa Barbara
Megabus & Coast Starlight (575 Kilometer)

Los Angeles – Santa Barbara
Coast Starlight (150 Kilometer)

Der hübsche, gelb gestrichene kleine Bahnhof sieht mit seinem Arkadengang sehr mexikanisch aus. Neben dem Gebäude steht ein alter Zugwaggon, der an die goldenen Zeiten der Eisenbahn in Santa Barbara erinnern soll, als Reisende in Waggons wie diesen Urlaub machten, den man heute am ehesten mit Campingwagenurlaub vergleichen kann. Am Ticketschalter schnappe ich mir einen Stadtplan und spaziere zum West Beach und zum Hafen.

Als ich am schönen Strand ankomme, lasse ich meinen Blick über das Meer wandern. Da stehen doch tatsächlich mehrere Bohrinseln in Sichtweite. Bereits im Zug fielen sie mir auf. Hinzu kamen noch Pumpen, die des Öfteren die Wegstrecke säumten. Sachen gibt’s …

Ich suche nach Tauchschulen, kann aber nur eine einzige finden. Die Truth Aquatics wirken ganz sympathisch, obwohl ich sie mit meinem Auftritt, glaube ich, zunächst etwas irritiere. Anscheinend kommt nicht jeden Tag Kundschaft mit einem dicken Rucksack vorbei, die tauchen will, ohne einen Tauchschein dabei zu haben. Da ich aber meine Divemaster-Nummer kenne und die Tauchschule mich auch problemlos über die PADI-Website als Taucher identifizieren kann, wäre es mehr als lächerlich, falls dies ein Problem darstellen sollte. Nicht allzu überraschend stellt es tatsächlich kein Problem dar. Preislich ist das Angebot der Tauchschule ebenfalls auszuhalten: Ein um vier Uhr morgens beginnender Tauchtag mit vier Tauchgängen inklusive Essen und Luft kostet 132 Dollar. Für das Equipment, das ich komplett dazumieten muss, sind noch einmal 88 Dollar zu berappen. Außer dem Angebot, für 220 Dollar vier Tauchgänge zu machen, bietet man mir noch an, für 178 Dollar drei Tauchgänge zu machen. Bei beiden Angeboten ist eine kostenlose Übernachtung auf dem Boot inbegriffen. Das ist cool, da ich wohl oder übel aufs Neue nur die Wahl haben werde, auf der Straße oder in einem Hostel zu pennen – wenn nicht gerade mal wieder Serendipity zur Seite springt. Apropos Serendipity: Ich frage zur Sicherheit, ob ich einen Rabatt gegen Mitarbeit bekommen kann. Genügend Erfahrung habe ich schließlich. Darüber lacht der Kollege hinterm Tresen jedoch nur. Schade.
»Well, worth a try«, lache ich zurück.
»Worth a try«, wiederholt er amüsiert und denkt sich wahrscheinlich dasselbe wie der Tankstellenmann vom Hoover Dam: »Diese geizigen Deutschen …«
Ich denke bereits darüber nach, ob ich direkt buchen oder mich erst noch einmal weiter umsehen soll, als man mir den Haken offenbart: Sie haben bisher noch nicht genügend Buchungen, um mir garantieren zu können, dass der Trip auch stattfindet. Das ist schlecht. Ich reserviere unverbindlich und mache mit den Jungs aus, dass wir deswegen noch einmal telefonieren werden. Dann verabschiede ich mich und laufe weiter am Hafen entlang. Auf der anderen Seite des Hafenbeckens befindet sich das Maritime Museum, um das sich auch eine kleine Infrastruktur von Geschäften zieht. Ich betrete einen Laden, den ich zunächst für eine ziemlich cool aussehende Tauchschule halte. Dann fällt mir auf, dass der Laden auch voll mit Angeln und Harpunen ist. Gut, das war die Tauchschule seltsamerweise auch. Wie man eine Tauchschule mit Hochseefischen verbinden kann, ist mir schon seit jeher ein Rätsel. Ich komme mit dem leicht skurrilen und sehr netten Verkäufer des Blue Water Hunter Dive Shop ins Gespräch. Er gibt mir eine Zeitschrift mit, in der sämtliche Telefonnummern und garantierten Tages- und Mehrtagestouren der umliegenden Tauchschulen aufgelistet werden. Na, das ist doch mal praktisch. Er empfiehlt mir, auf der Peace in Ventura mitzufahren. Dieses Boot gefällt ihm persönlich am besten. Mein Favorit nach meiner gestrigen Internetrecherche ist derweil die Spectre von Cal Boat Diving. Die Tauchschule hat super Kritiken und ist zudem noch am preiswertesten. Die Cal Boat Diver starten ebenfalls im 55 Kilometer östlich von Santa Barbara gelegenen Ventura. Als ich dort anrufe, bekomme ich auf mein Anfragen sofort garantiert, dass ein Trip stattfinden wird. Es werden nur Tauchtage mit drei Tauchgängen angeboten, was mir bei den höchstwahrscheinlich ganz schön knackigen Wassertemperaturen indes vollkommen ausreicht. Für 190 Dollar ist neben Equipment und den Tauchgängen ebenfalls eine Übernachtung auf dem Boot in der Nacht vor dem Tauchtag inklusive.

Ich beschließe zur Uni zu gehen, deren grüner Campus sich direkt hinter dem Hafen befindet, um zu versuchen, dort ins Internet zu kommen. Zunächst kaufe ich mir in der Mensa etwas zu essen. Dabei erlebe ich eine Szene wie man sie aus Knastfilmen kennt: Der Student bei der Essensausgabe schöpft mir einen Löffel Tofugemüse auf den Teller, den ich ein wenig ärmlich finde. Ich schaue ihn fragend an und lasse ein flehendes: »Please … a bit more«, samt Hundeblick auf ihn los. Sofort macht er mit seiner Hand eine Bewegung, die mir signalisiert, dass ich die Klappe halten soll. Er schaut nach links, schaut nach rechts und gibt mir geradezu konspirativ einen kleinen Nachschlag. Sehr nett.
Ich stelle fest, dass die Uni so manches Filmklischee bedient: So sitzt der fette Nerd mit den strähnigen langen Haaren alleine am Tisch, während die gestylten Chicken an einem anderen laut gackern, als die Sportler vorbeiziehen. Ich setze mich auf die Terrasse hinter der Mensa. Dort ist allerdings die Internetverbindung viel zu schlecht, um auch nur eine Seite zu öffnen. Eine nette Studentin gibt mir ihre Zugangsdaten. Damit sollte es funktionieren. Sollte, tut es aber nicht. Zumindest nicht auf der sonnigen Terrasse. Ich ziehe daher in die Bibliothek der Uni um, wo es schließlich klappt.
Interessanterweise habe ich zwei Zusagen zum Couchsurfen in Los Angeles erhalten. Damit ist klar, dass man einfach nur als männliches Duo keine Couchs bekommt. An der Stadt an sich liegt es also anscheinend nicht. Das kann mir momentan aber auch egal sein. Schließlich bin ich nun in Santa Barbara. Für meine noch anstehenden Nächte in Los Angeles – keine Ahnung, wie viele es davon noch geben wird – werde ich aber aller Voraussicht nach keine Probleme bekommen … wenn ich nicht wieder versuche, mit Ford etwas klarzumachen.
Bei jedem Dritten, der die Bibliothek verlässt, piept die Sicherheitsschleuse. Der eine oder andere Auslöser des Alarms dreht sich kurz irritiert im Kreis, die meisten spazieren jedoch einfach weiter. Und auch in der Bibliothek selbst juckt den Alarm keinen Menschen. Da ich dank Bushs Politik der Angst seit dem 11. September Amerikaner vor meiner Reise eher als übertrieben panisch charakterisiert hätte, empfinde ich diese Gleichgültigkeit durchaus als positiv symbolisch für meinen Irrtum. Wie viele meiner Vorurteile sind in den letzten Monaten nicht alle zerbröselt! Fühlt sich gut an.
Ich mache mir noch ein paar letzte Gedanken zum Tauchen und buche schließlich um kurz vor 17 Uhr. Allerdings hat die Basis um diese Zeit das Büro offensichtlich schon geschlossen und mir bleibt nur die Nachricht auf den Anrufbeantworter. Hoffentlich klappt das. Somit sollte feststehen, dass ich übermorgen auf der Spectre übernachte und am Samstag meinen lange ersehnten Tauchtag haben werde und ihn hiermit von meiner – wie Cari es mir beigebracht hat – bucket list streichen kann. Der Begriff kommt übrigens vom Englischen »to kick the bucket«, was wir Deutschsprachigen am ehesten mit »den Löffel abgeben« oder »ins Gras beißen« übersetzen würden. Oder wie Cari es mir einst erklärte: die Liste, die man abarbeiten möchte, bevor das Leben zu Ende ist. Ihr Tangwälder vor der Küste Kaliforniens, am Samstag tauche ich in euch hinab! Yeah!
Nachdem dieser Punkt also von der Liste gestrichen werden kann, frage ich mich, ob ich nicht auch die Eier und ebenso das notwendige Kleingeld habe, um nicht zusätzlich noch den auf meiner Liste stehenden Fallschirmsprung abzuhaken. Auf jeden Fall recherchiere ich, wie viel skydiving kostet: rund 200 Dollar. Ich bitte die weise und entschlussfreudige Cari um Rat. Ausgerechnet jetzt antwortet sie jedoch nicht. Boah. Ich checke bei sämtlichen Fallschirmschulen, von wo aus sie überhaupt starten. Die Witzbolde tragen nämlich alle irgendwelche Namen, die »Santa Barbara« enthalten, ihre Abflugorte aber allesamt zwischen 50 und 100 Meilen von Santa Barbara entfernt liegen haben! Was soll das? Als ich mit einer dieser Schulen telefoniere, frage ich, ob sie einen Shuttle von Santa Barbara zu ihrem Flugplatz anbietet. Nein, ich muss selbst irgendwie dorthin kommen. Super. Ich will schon fast aufgeben, als ich letztlich tatsächlich noch den preiswertesten und obendrein noch nächstgelegenen Anbieter entdecke: Skydive Coastal California befindet sich in Camarillo, was tatsächlich nur unweit von Ventura gelegen ist. Da muss ich sowieso wegen des Tauchens hin. Ich beschließe, bloß nicht allzu lange darüber nachzudenken, ob ich es mir wirklich zutraue aus einem Flugzeug zu springen. Außerdem denke ich mir, dass dem Fallschirmsprung auch eine gewisse Symbolik zuteil wird. Frei nach dem Motto: »Fuck you, Chris! Du ängstlicher Wicht hattest ja schon bei unserer kleinen Kletteraktion in Malibu die Hosen gestrichen voll! Und ich werde dir nun grinsend meinen Mittelfinger entgegenstrecken, wenn ich mit annähernd 200 Sachen aus drei Kilometern Höhe auf die Erde zurase. Das sind 120 Meilen pro Stunde aus 10.000 Fuß! Sage ich sicherheitshalber mal dazu, da du sicherlich das metrische System nicht beherrschst.«
Ich lache dreckig in mich hinein, rufe bei der Schule an und buche verbindlich. Der Mann am Telefon fragt, ob ich direkt zahlen oder die Option behalten möchte, einen Rückzieher zu machen. Im Falle eines feigen Rückzugs würde ich jedoch nicht alles Geld zurückbekommen. Ich lasse den Mann wissen, dass ich tragischerweise ein wenig aufs Geld achten muss und er daher sofort meine Kohlen behalten soll, damit ich bloß nicht auf die Idee komme, abzusagen. No way back, Baby! Er lacht und bucht das Geld von meiner Kreditkarte: 189 Dollar für meinen ersten Sprung aus einem Flugzeug – exklusive Pampers. Am Freitag Vormittag um halb elf geht’s los. Rock und Roll!
Ich packe meine Sachen und verlasse die Bibliothek. Die Sonne ist bereits untergegangen. Zwei Sicherheitsmänner mit Golfcart falten in guter alter Patriotenmanier die soeben vom Mast geholte US-Fahne zusammen. Ein skurriles Schauspiel.

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Noch skurriler sind allerdings die Studenten des Videokurses, die mich Zeugen eines spontanen und auf jeden Fall ziemlich schlechten kleinen Filmdrehs werden lassen. Die Aufgabenstellung ist wohl, innerhalb einer Stunde einen 30-Sekünder zu drehen. Ich gehe davon aus, dass die Gruppen ausgelost wurden. Zumindest passt hier keiner zum anderen. Einer der Studenten ist der reinste Zappelphilipp, der es einfach nicht fertigbringt, nur für einen Moment ruhig stehen zu bleiben. Als er einmal verharren soll, damit der Mann mit der Kamera ihn wegen eines Lichts positionieren kann … zappelt er einfach weiter. Ein anderes Mitglied der illustren Truppe ist eine wesentlich ältere schwarze Frau aus Washington, D.C., die die Amerikaner einfach nicht versteht, obwohl sie selbst eine ist. Sie textet mich, der sich neugierig und amüsiert danebenstellt, ununterbrochen zu, während die anderen die Arbeit erledigen. Auf YouTube postet sie unglaublich erfolgreiche Sportvideos, die ich unbedingt mal abchecken soll. Ein weiterer Student übernimmt irgendwann die Regie. Eigentlich führen sie nämlich alle gleichzeitig und durcheinander Regie bei diesem trashigen Filmchen, das wohl »The Tarzan Pic« heißen soll. Der Student, der den Tarzan gibt, hat Dreadlocks bis zum Arsch und außer einer Unterhose keine Klamotten an. Letzteres ist natürlich Teil seiner Rolle. Wäre mir momentan zu kalt. Er friert auch ein wenig und will zudem für die Kamera die Muskeln angeschwollen wissen, weswegen er ständig auf den Boden springt und Liegestütze drückt. Die Letzte im Bunde ist ein hübsches Mädel aus New York, welches zur Hälfte blondierte Dreadlocks, zur anderen Hälfte gekämmte blondierte Haare und vor dem Kinn sehr große echte Brüste mit sich herumträgt. Sie ist neben Tarzan die Jane, die sich von seinem unbedarften Urwaldcharme einlullen lässt und den frierenden Tarzan abschleppt. Nachdem die Großaufnahme der Brüste im Kasten ist, reißt sich der Zappelphilipp die Klamotten vom Leib, schmeißt sich auf den Boden und drückt wie Tarzan eine Reihe Push-ups. Der große Gag des Films ist nämlich, dass Tarzan gar nicht aus dem Dschungel kommt, sondern lediglich eine billige Masche fährt, um Frauen abzuschleppen. Sein Kumpel Zappelphilipp will es ihm gleich tun, scheitert aber daran, dass die nicht mehr ganz so knackige Dame aus Washington auf seinen blöden Spruch nicht wie erhofft reagiert. Was ein Murks. Ich gebe zu, dass mein Hauptgrund fürs lange Danebenstehen darin zu finden ist, dass ich hoffte, mit den Leuten in ein Gespräch zu kommen, und so vielleicht eine Übernachtungsmöglichkeit klarzumachen. Leider sind sie jedoch zu beschäftigt und auch die Labertasche mit den YouTube-Videos wird irgendwann inmitten ihres Monologs zum Schauspielen an den Tisch abkommandiert. Pech gehabt.
Ich spaziere in die Downtown und komme dabei an einem in Flutlicht getränkten Baseballplatz vorbei. Um den Platz herum stehen ein gutes Dutzend Jungs, die ihre Keule durch die Luft schwingen. Trockenübungen, die sportlich gemeint sind, aber so im Dunkeln bei einem Europäer doch auch irgendwie brutal daherkommen.

Ich kaufe mir ein Bier im mexikanischen Santa Cruz Market und lasse mich auf einer Bank in der State Street auf eine Unterhaltung mit einem Schnurrbartträger ein, der Santa Barbara wegen der sexy Frauen so liebt, als die einheimische Couchsurferin Alison sich auf meinem Handy meldet. Yes, reagiert also doch noch jemand auf meine Anfragen! Beherbergen kann sie mich zwar leider nicht, doch dafür will sie mich treffen. Ist auch in Ordnung. Ich soll ins The Neighbourhood, einer Kneipe, kommen, an der ich vorhin zufällig schon einmal vorbeigekommen bin. Wenig später treffen wir uns. Sie hat noch eine Freundin mitgebracht. Es ist sehr nett, doch ich werde aus unerfindlichen Gründen unfassbar müde. Eine Einladung auf Alisons Couch kommt leider nicht, doch auf der Straße wollen sie mich auch nicht pennen lassen. Also schauen sie in ihren Smartphones nach, wo man in Santa Barbara möglichst preiswert übernachten kann. Das ist schwer, sagen sie, finden dann aber doch noch ein Hostel, in dem die Übernachtung 30 Dollar kostet. Naja. Da ich absolut keinen Bock auf die kalte Straße habe und mich auf keinen Fall vorm Tauchen noch erkälten möchte, stimmt die Vernunft dem Plan zu.
Das AAE Santa Barbara Guest House ist klein. Alison und ihre Freundin verabschieden mich lieb und hauen wieder ab. Ich unterhalte mich stehend k.o. noch kurz mit dem Kollegen an der Anmeldung. Er ist großer Fan von Chiang Mai, der fantastischen Stadt in Nordthailand. Also quatschen wir ein bisschen über das Land des Lächelns, bevor ich mich todmüde in mein Mehrbettzimmer verkrieche. Ich teile mir das Zimmer mit einem leeren Bett und einem Bett, auf dem ein Mädel aus Rio liegt, das außer: »Hi«, kein Wort mit mir wechseln will und mich keines Blickes würdigt. Das Bett quietscht außerdem. Beides ist mir derweil so was von egal. Ich bin ja so müde …

Quellen
Informationen zum Los Angeles Plaza Historic District: Wikipedia

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