Tag 83: Die bunten Menschen der »Amerikanischen Riviera«

Serendipity – Teil 2

Santa Barbara County Courthouse

Donnerstag, 31. Januar 2013
Santa Barbara – Ventura

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Meine brasilianische Mitbewohnerin behält auch am Morgen ihre Ignoranz bei, würdigt mich weder eines Blickes noch eines Wortes. Seltsamer Mensch. Der Kollege vom Hostel hat eine sehr stark nach Marihuana riechende Aura. Mit ihm arbeitet heute ein Mann um die 50 am Rezeptionstisch neben der Eingangstür, der mir, als er hört, dass ich nach Ventura will, eine Galerieeröffnung ans Herz legt, in der Bilder ausgestellt werden, in denen es um Bärte geht. Und da ich solch einen beeindruckenden Vollbart im Gesicht trage, wäre das doch passend für mich, meint er. Was haben die bloß alle mit meiner Gesichtsbehaarung?
Edward, der Typ, bei dem Ford und ich vor drei Wochen in Los Angeles gekocht und geduscht haben und der auf Google nach »Philip takes Joshua’s load« sucht, spammt mich mit SMS zu. Er hat meine auf der Couchsurfing-Website öffentlich angelegte Suche nach einer Übernachtungsmöglichkeit gesehen und will mir helfen. Das ist sehr lieb, aber auch leicht befremdlich: Obwohl er weiß, dass ich mittlerweile in Santa Barbara bin und morgen mit dem Fallschirm springen und übermorgen tauchen werde, beschwört er mich, am Abend ins über 180 Kilometer entfernte Long Beach auf ein potluck, also einem gemeinschaftlichen Abendessen der Couchsurfing-Community, zu kommen, um potenzielle Gastgeber kennenzulernen. Ich lehne dankend ab und bin nicht zum ersten Mal über die Hardcore-Couchsurfer verwundert. Das entbehrt doch jeglicher Logik.
Ich verlasse das Hostel und spaziere in Richtung Downtown. Das Wetter ist super: Am Himmel ist kein Fitzelchen einer Wolke auszumachen und die Temperatur dürfte bei rund 23 °C liegen. Sehr angenehm. In Berlin stehen sie womöglich wieder mit Presslufthämmern auf den Gehsteigen, um diese vor dem überraschenderweise Anfang Dezember eingebrochenen Winternebenwirkungen »Schnee und Eis« zu befreien. Später erfahre ich, dass der heimatliche Winter dieses Jahr erst für Februar angekündigt ist und es momentan noch recht mild ist. Na toll. Super Timing. Meine »Vorfreude« auf das Ende dieser Reise wird immer größer.
Beim Biosupermarkt Fresh & Easy gibt’s für fünf Dollar Brot und Hot Jalapeños Hummus. Frühstück und Sonnenbad nehme ich – umgeben von reichlich Obdachlosen – auf der grünen Plaza de Vera Cruz in der Haley Street ein. Das Hostel liegt doch weiter von der Downtown entfernt, als ich erwartet habe. Schließlich erreiche ich endlich die State Street, die Santa Barbaras Zentrum darstellt.
Santa Barbara ist eine weitere Stadt Kaliforniens, die in meinen Augen ein sehr mexikanisches Flair ausstrahlt. Nicht nur, dass ich gestern in einem mexikanischen Supermarkt war, auch die Architektur sieht für mich typisch mexikanisch aus: kleine Häuser mit Türmchen, geschwungenen Erkern und halbrunden Fenstern mit hüfthohen Gittern, sobald sie bis auf den Boden reichen. Selbst die Schaufenster laufen halbrund zusammen. Ab und an verzieren blaue Mosaike die zumeist strahlend weißen Fassaden. Hier und da ein Arkadengang, Balkone. Der Bürgersteig ist mit roten Steinen ausgelegt. Palmen und Blumenkübel säumen die Straße. Darüber hinaus ist die Schrift auf den Straßenschildern äußerst … nennen wir es mal »extravagant«. Sonderlich gut ausgewählt ist sie allerdings nicht. Nein, das erinnert zu sehr an COMIC SANS in Kapitallettern. Ein unästhetischer Schauder läuft mir über den Rücken. Vom typografischen Fauxpas abgesehen ist Santa Barbara aber schön, idyllisch und vollauf ferientauglich.

Ich komme am Metro 4 Theatre vorbei. Geiler Scheiß: In Santa Barbara findet ein Filmfestival statt! Sehr schnell leuchtet mir ein, dass der kurz aufkeimende Gedanke, schnell reinzurennen und wild mit den Armen wedelnd: »Here! Here! Take this! The newest sensation from Germany: Me!«, zu rufen, wenig Sinn ergibt. Die Filmauswahl wurde begreiflicherweise vor Monaten getroffen und teils horrende Einreichgebühren verlangen die Amis obendrein. Erst viel später erfahre ich, wie groß das Santa Barbara International Film Festival außerdem ist. Hätte ich zu diesem Zeitpunkt indes gewusst, dass Quentin Tarantino gestern Abend persönlich einen Preis entgegengenommen hat und vielleicht sogar noch zugegen ist … vielleicht wäre ich ja doch mal ins Kino gerannt.

Video

Das Interview ist großartig!

Ein Anzugträger kommt auf mich zu und fängt direkt eine Unterhaltung mit mir an. Wie sich – für mich recht spannend – nach wenigen Sekunden herausstellt, ist Dylan Filmemacher und mit seinem Werk im Wettbewerb vertreten. Weniger erfreulich für ihn stellt sich zwei Sekunden danach heraus, dass der Typ mit der Kamera – das bin ich – und dem riesigen Rucksack auf dem Rücken – auch das bin ich – ein Backpacker und kein Pressefotograf ist, der scharf darauf ist, ihn abzulichten. Er bleibt aber freundlich und nervös, unterhält sich noch kurz mit mir und verabschiedet sich artig, als ich ihm viel Erfolg für den Wettbewerb wünsche.
Seit dem Schnurrbartmann von gestern Abend weiß ich, dass es in Santa Barbara viele hübsche Frauen geben soll. Nun weiß ich, dass sich momentan auch viele Filmemacher hier tummeln und wenige Meter später stelle ich erfreut fest, dass es auch Punks im Städtchen gibt. Immer dort, wo man sie am wenigsten erwartet. Und auf meiner sich zum Ende neigenden Reise habe ich wenige, erschreckend wenige meiner Irokesenbrüder gesehen. Ja, mein Rock und Roll hat seine Wurzeln im guten alten Punkrock.

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Ich stehe vor dem The Habit Burger Grill, einem Fast-Food-Restaurant, vor dem ein paar »Freebies«, also primär freiwillig obdachlose Jugendliche sitzen. Ich bin durstig und frage die Jungs, wo ich preiswert Getränke kaufen kann. Ich kann nämlich mal wieder keinen Supermarkt finden – das ewige Problem in den Staaten. Die Obdachlosen sagen mir, dass es im Grill kostenlose Getränke gibt. Klingt super … und unglaubwürdig. Also setze ich mich zu ihnen vor das Fast-Food-Restaurant und lasse mir erklären, was genau das bedeuten soll. Man weiht mich ein, dass man, sobald man einen Becher hat, auch das Recht auf Refills bekommt. Und da der Zapfautomat im Freien und zudem so bescheuert aufgestellt wurde, dass keiner der Angestellten sehen kann, wer sich wie oft bedient, sind die Getränke eben umsonst. Außerdem, so die Jungs, würde das auch eh niemanden jucken. Punkrock und Roll! Ich bleibe also bei den Jungs sitzen und beobachte, wie sich der Erste seinen wer weiß wievielten Refill holt. Das klappt tatsächlich, obwohl er quer über die Terrasse laufen muss. Der Automat steht eigentlich direkt neben der Essensausgabe, jedoch wahrhaftig so, dass keiner, der hinterm Tresen steht, ihn im Blick hat. Einer der Jungs drückt mir seinen Becher in die Hand und animiert mich, es ruhig ebenfalls zu versuchen. Ein Kinderspiel. Und da ich als Europäer darauf verzichte, mir die Hälfte des Bechers mit Eiswürfeln aufzufüllen, stibitze ich vermutlich noch am dreistesten von allen.
Der blonde Logan ist das Zentrum der Gang. Zumindest begrüßen alle, die neu zu uns stoßen, zunächst einmal den Surferboy mit dem kurzen Zöpfchen. Diese Wertschätzung scheint mir aber nicht darauf zu beruhen, dass er der Drogenboss oder Ähnliches in der Clique ist. Nein, der Ire mit dem auffallenden Tattoo auf der Wade ist einfach nur schwer sympathisch. Mit ihm zu kommunizieren ist einfach und nett. Das Bild, das seinen Unterschenkel ziert, ist übrigens die Karte Kaliforniens samt des Schriftzugs »SoCal«, also Southern California. Auf dem Fingerglied seines kleinen Fingers steht überdies noch »FAITH«. Alles an diesen Tattoos ist schlichtweg schlecht gemacht. Ob er wohl beim »Tattoo Thursday« in San Diego war?
Neben Logan sitzt Monkey. Ich gehe mal stark davon aus, dass seine Eltern ihn nicht so getauft haben, sondern vielmehr sein Erscheinungsbild für diesen Spitznamen verantwortlich ist. Monkey ist ein Riese, der aber mit seinen dunklen langen Haaren und dem Bart sehr eingeknickt auf dem Betonquader vor dem Habit Burger Grill sitzt. Er ist ein total ruhiger Zeitgenosse mit Hunde- oder eben Affenblick – wie auch immer. Ein Kerl, dem man wegen nichts böse sein kann, der einfach nur lieb und vielleicht auch ein bisschen doof ist. Einer, den man gerne als Kumpel hat, wenn’s mal Ärger gibt. Denn, so Teddybär er auch erscheinen mag, austeilen kann er bestimmt auch. Augenblicklich teilt er auch aus. Allerdings keine Schläge und Tritte, sondern liebliche Botschaften. Der Hüne, dessen Obdachlosigkeit durch das Tragen viel zu vieler schwarzer Pullover deutlich wird, hält ein Schild vor sich, auf dem »Hungry Hippies« geschrieben steht. Sobald mehr oder weniger hübsche Frauen an ihm vorbeiflanieren, schaut er sie noch herzzerbrechender an und dreht das Schild um. Auf der nun für die auserwählten Damen zu sehenden Rückseite steht ein liebes »You are beautiful« geschrieben. Ach, wie süß. In der Highschool war Monkey nach eigenen Angaben ein ziemlich guter Footballspieler. Er kommt aus San Francisco und trägt eine 49ers-Mütze. Der 47. Super Bowl steht am Sonntag an und die 49ers sind mit von der Partie. Das interessiert ihn jedoch herzlich wenig. Er ist nämlich gar kein Fan mehr. Der komplette Sport geht ihm am Allerwertesten vorbei. Ich glaube, das sind alte Wunden.
Captain Chunk hat seinen Spitznamen wegen seiner Ähnlichkeit und – nach eigener Aussage – auch seiner Liebe zu dem fetten Kind aus »The Goonies«. Er kommt aus meinem geliebten Portland, lebt mit seiner angeleinten schwarzen Katze auf der Straße und trägt ein Turtles-T-Shirt. Zuhause ist er öfter mal als »superhero after work« aufgetreten, berichtet er grinsend. Das sah dann so aus, dass er ein halbes Superheldenkostüm anhatte und durch die Straßen zog. Was er dabei gemacht hat, bleibt mir ein Rätsel. Die Leute fanden’s auf jeden Fall lustig, strahlt er. Nach dieser Geschichte erzähle ich ihm von Fantastic Mr. Fox. Ich denke mir, dass ein Junge, der sich selbst Captain Chunk nennt, Mr. Fox’ Geschichte interessant finden dürfte. Ich gebe den Cordhosenwitz zum Besten und berichte Chunk, dass dies Mr. Fox’ Art ist, zu schnorren: »A joke for a smoke, a buck or a beer!«
Erst reagiert Chunk in keiner Weise auf meine Erzählung. Als kurz darauf aber ein paar Mädels vorbeikommen, beugt sich Chunk zu ihnen und fragt äußerst unbeholfen: »Uhm, excuse me? Can I tell you a joke and therefore get maybe a buck or a …?«
Wenig erstaunlich wollen sich die beiden Hübschen keinen Witz von diesem unsicheren Jungen erzählen lassen und laufen ihn vollends ignorierend einfach weiter. Chunk redet derweil – zu uns oder einfach nur zu sich selbst – leise weiter: »No, of course I’m not allowed, because I’m not a human being …«
Chunk will sich meinen Pass anschauen. Pässe, speziell jene von Ausländern, findet er wegen der ganzen Stempel so cool. Als er so am Blättern ist, stoppt er auf einer Seite, runzelt die Stirn und liest fragend: »Kingdom of Cambodia?«
»Yepp«, antworte ich.
»I’ve never heard of that before …«
Er schaut mich fragend an, weshalb ich ihm ein wenig vom Königreich aus dem Fernen Osten erzähle. Ein paar noch jüngere Kids als der höchstens 18-jährige Captain Chunk rücken an. Ich glaube, es sind Skatekids aus der Stadt, die sich nur ein bisschen Gras bei Chunk kaufen wollen. Chunk haut kurz mit den Jungs ab, was Logan dazu animiert, mir zu erzählen, wie nervig der Dicke ist. Auf die Dauer glaube ich ihm das auch. Umso erstaunlicher demonstriert diese Situation den Zusammenhalt der Jungs. Anderswo werden Nervsäcke einfach zum Teufel gejagt. Gemeinsame Schlafplätze scheinen sie indes nicht zu haben. Wenn ich es richtig mitbekomme, schläft Logan beispielsweise derzeit auf der Ladefläche eines Pick-ups. Der Besitzer weiß und akzeptiert dies.
Außer Logan, Monkey und Captain Chunk sitzen noch eine hübsche Mexikanerin, die wohl zu Monkey gehört, und Logans Zwillingsbruder im Geiste mit uns auf dem Betonblock. Er ist ein wenig ruhiger, aber sichtlich Logans bester Kumpel in der Runde. Ein weiterer Freund Logans ist mir weniger sympathisch und wirkt ganz schön schräg. Er hat fett »Et Spiritus Sanctus« auf seine Haut tätowiert, trägt eine Sonnenbrille, ein weißes T-Shirt, schwarze fingerlose Handschuhe, eine ¾-Jeanshose sowie weiße Socken, die er sich bis zu den Knien hochgezogen hat. Die nackten Waden sind also trotz der recht kurzen Hose nicht zu sehen. Was für ein Outfit. Neben ihm sitzt seine sehr fette afroamerikanische Freundin im Rollstuhl und hört sich noch am andächtigsten seine präsentierten Knastgeschichten an. Was für ein Typ.
Logan und seine Gang, allen voran der Kopf der Gruppe selbst, haben die Angewohnheit, Frauen auf einer Skala von 0 bis 10 zu bewerten. Die Jungs machen ihr Spielchen dabei im Geheimen; die Frauen bekommen von den Wertungen also nichts. Hin und wieder kommt es dabei jedoch zu hitzigen Diskussionen in der Jury. Die Debatten über das Äußere der soeben vorbeimarschierten »7« beziehungsweise »4« werden nahezu niveauvoll geführt und sind daher äußerst ulkig mitanzuhören.
Es kommen und gehen ständig weitere Streetkids. Auf der anderen Straßenseite sorgen zwei Musiker für Unterhaltung: Sie spielt das Waschbrett, er Akkordeon. Das Resultat ist erstaunlich punkige und ziemlich coole Musik.
Eine verwirrt wirkende ältere Frau kommt vorbei und regt sich weshalb auch immer tierisch über Monkey auf. Der ignoriert sie einfach, um keinen Tumult auf offener Straße auszulösen. Scheint mir ebenfalls die klügste Taktik zu sein, die obendrein mal wieder beweist, dass das Klischee vom jugendlichen, obdachlosen Vollassi, der sofort zurückpöbelt, eben nur ein Klischee ist, welches nicht unbedingt bedient werden muss. Alle Obdachlosen, die ich an der Westküste kennengelernt habe, waren bedachte, höfliche und zumeist auch recht schlaue Menschen. Weshalb regt sich die Alte nun aber so auf? Hat Monkey ihr sein »You’re beautiful«-Täfelchen nicht gezeigt? Nachdem sie noch eine Zeit lang in gewissem Abstand wütend vor sich hinblökt, gibt sie die Provokation auf und zieht endlich weiter. Dafür rückt Filmemacher Dylan plötzlich an, den ich sofort freundlich grüße, was mit einem sehr verwirrten Blick entgegnet wird. In Rekordzeit dürfte mein Rang vom interessanten Pressefotografen über den uninteressanten Kollegen zum obdachlosen Dummschwaller herabgesunken sein. So kann’s gehen. Für einen Künstler ziemlich intolerant, oder?
Logan empfiehlt mir, mit dem VISTA und nicht mit Amtrak nach Ventura zu fahren. Der Bus kostet nur drei Dollar, wohingegen der Zug mit 14 Dollar zu Buche schlägt. Der nächste Bus fährt in einer dreiviertel Stunde. Das ist zu lange zum Warten und zu kurz, um mir Santa Barbara entspannt anzuschauen. Ich entscheide mich daher, den Bus um zehn nach vier zu nehmen. Das ist erst in knapp eineinhalb Stunden.

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In Santa Barbara gibt es Paseos, niedliche kleine Fußgängerzonen, die sich meist durch einen, manchmal auch durch mehrere Blocks ziehen. Die erste dieser kleinen Oasen entdecke ich, als ich mir den Weg zur Bushaltestelle anschaue. Der Paseo Nuevo geht von der State Street ab und führt mich auf die auf der anderen Seite des Blocks gelegene Chapala Street.

Hier, an der Ecke Chapala und Figueroa, wird also mein Bus, der Coastal Express abfahren.

Ich spaziere wieder in Richtung State Street und spüre zufällig das nächste Gässchen auf. In diesem Paseo, La Arcada, hängen alle möglichen Flaggen von den Häuserwänden und putzige Delfinstatuen säumen das Sträßchen. Dass man in Santa Barbara Delfinstatuen aufstellt, leuchtet ein, was jedoch das bronzene »Mozart Trio« hierher verschlagen hat, bleibt mir ein Rätsel. Schön anzusehen ist das klassische Trio auf dem Minibrunnen allemal. Weiter hinten in der Passage leben Schildkröten in einem sonnendurchfluteten Brunnen. Trotz eines Hinweisschildes haben ein paar Minderbemittelte dennoch Münzen ins Wasser geworfen.

Der Paseo spuckt mich vor dem im spanischen Kolonialstil erbauten County Courthouse in der Anacapa Street aus.

<center>Santa Barbara County Courthouse</center>
Das pompöse weiße Gebäude mit dem riesigen Torbogen und dem 26 Meter hohen Uhrenturm stammt aus den späten 20er Jahren. Zuvor stand an dieser Stelle ein im griechischen Stil gehaltenes Gerichtsgebäude, welches durch ein Erdbeben 1925 zu schwer beschädigt wurde, um gerettet zu werden. Dies könnte sich für Santa Barbara allerdings zum Glück im Unglück entwickelt haben, da es heißt, dass das neue Gerichtsgebäude, welches von manchen sogar als das schönste öffentliche Gebäude der USA bezeichnet wird, den spanisch anmutenden Baustil der kompletten Innenstadt maßgeblich geprägt habe.

Hinter der beeindruckenden Arkade offenbart sich ein Rasen, auf den jeder Engländer neidisch sein darf. Mit »Sunken Garden« ist obendrein noch der Name ziemlich lässig und auch der Gärtner scheint über ein gewisses Maß an Humor, verbunden mit Hingabe zu verfügen: Ein gelbes Seil ist um den Rasen gespannt und auf einem Schild steht des Gärtners Bitte: »Please watch the grass grow. Refrain from walking on it. Thank you.«
Von der Poesie des Augenblicks angesteckt, breite ich meine Arme aus und deklamiere: »Dios nos dio los campos, …« Ich lege eine dramatische Pause ein und ende schließlich mit: »… el arte humana edificó ciudades.«
Ich verbeuge mich, schwinge meinen Zopf nach hinten und mache eine möglichst arrogante Bewegung mit dem Kinn, bevor ich von dannen ziehe, den Torbogen durchquere und nachschaue, ob ich die Inschrift darüber auch richtig wiedergegeben habe: »Gott gab uns Felder, doch die Fertigkeit des Menschen baute Städte.«
Yeah, Baby.

<center>Die Geschichte Santa Barbaras</center>
Die Gegend um das heutige Santa Barbara wurde schon vor Tausenden von Jahren besiedelt. Als 1542 der portugiesische Entdecker João Cabrilho als erster Europäer durch den Santa Barbara Channel segelte, bewohnten an die 10.000 Chumash die »Amerikanische Riviera«. 1602 bedankte sich ein spanischer Konquistador beim lieben Gott für das Überleben eines Sturmes und benannte die bei Europäern noch namenlose Gegend nach der Heiligen, deren Gedenktag dem unheilvollen Tage folgte: Barbara von Nikomedien. Es dauerte weitere sage und schreibe 180 Jahre bis sich die ersten Soldaten und Missionare an jenem Ort ansiedelten, der heute auch den Spitznamen »Silicon Beach« trägt. In der Folgezeit wurden die Chumash zu großen Teilen von den Pocken dahingerafft und die spanische Siedlung mitsamt ihrer Mission 1812 von einem Erdbeben samt Tsunami dem Erdboden gleichgemacht. Das Wasser drang damals bis zum soeben besuchten Gerichtsgebäude hinauf, welches mehr als zwei Kilometer Luftlinie vom Ozean entfernt liegt. 1822 wurde Santa Barbara Teil des nun unabhängigen Mexiko. Man hatte jedoch nicht allzu lange Freude an Santa Barbara und verlor es 1846 an die Amerikaner. Zwei Jahre später wurde Santa Barbara offiziell von den USA annektiert. Aus den Lehm- wurden Holzbauten, die Bevölkerung wuchs rapide an und mit dem Goldrausch wurde aus dem beschaulichen Küstenstädtchen eine gesetzlose Oase für Gangster und Spieler. Einer von ihnen, Jack Powers, wurde gar zum Herrscher über Santa Barbara und Kontrolleur der Straße nach San Luis Obispo. Der Camino Real erlangte durch die Überfälle der Powers Gang die fragwürdige Berühmtheit, die gefährlichste Straße des gesamten Staates zu sein. Erst ein Trupp von 200 Mann konnte Powers aus Santa Barbara vertreiben. Er floh nach Mexiko, wurde für kurze Zeit Farmer und letzten Endes wegen eines Streits um eine Frau Schweinefutter. Was für eine Karriere.
Nur drei Jahre nachdem mexikanische Schweine Powers verspeist hatten, bekamen ihre Kollegen aus Santa Barbara 1863 eine verheerende Dürre zu spüren, die die Ära der Farmer an Kaliforniens Küste beendete. 1870 wurde Englisch zur offiziellen Sprache Santa Barbaras ernannt und zwei Jahre später mit Stearns Wharf der längste Tiefwasserpier zwischen Los Angeles und San Francisco eröffnet, welches den Wohlstand der Stadt nach der Dürre wiederherstellte und sie für Touristen attraktiv werden ließ. 1887 kam noch die Eisenbahnstrecke nach Los Angeles und 1902 auch nach San Francisco hinzu. Als man dann zusätzlich noch Öl entdeckte, stand dem Aufschwung nichts mehr im Wege.
In den späten 30er Jahren besuchte ein Mann namens Kozo Nishino, seines Zeichens Skipper eines japanischen Öltankers, das nahe der Stadt gelegene Ellwood Oil Field. Peinlicherweise stolperte der Gute und landete mit dem Popöchen in einer Opuntie. Das ist ein Kaktus. Als sich der stolze Käpt’n die Stacheln aus den Backen ziehen ließ, konnten ein paar Ölarbeiter nicht an sich halten und lachten den Armen aus. Was ist das bekanntermaßen Schlimmste, was einem Asiaten passieren kann? Richtig: das Gesicht zu verlieren. Nishino-san hatte dieses Gefühl der Erniedrigung offensichtlich noch immer nicht verdaut, als er wenige Jahre nach der stachligen Angelegenheit zurückkehrte und US-amerikanische Geschichte schrieb: »Rache ist ein Gericht, das am besten kalt serviert wird«, wussten bereits die Klingonen und auch Kozo Nishino mag Ähnliches durch den Kopf gegangen sein, als er am 23. Februar 1942 mit dem U-17, einem japanischen U-Boot, vor der Küste Santa Barbaras auftauchte.
»Ich setze Santa Barbara in Flammen«, meldete der Rachsüchtige nach Tokio und eröffnete die Götterdämmerung, die den ersten Angriff feindlicher Truppen auf das amerikanische Festland seit dem Britisch-Amerikanischen Krieg von 1812 darstellte. Wer weiß, ob nicht der Chef persönlich, mit Schaum vor dem Mund, innerhalb von 20 Minuten bis zu 25 Schüsse auf die verdammten Öltanks des verfluchten Ellwood Oil Field abgab. Was man auf jeden Fall weiß, ist die Tatsache, dass die bloße Präsenz des U-Boots wesentlich mehr anrichtete, als der Held, der fürs Abschießen der Kanone verantwortlich war. Denn, nun ja, kein einziger Schuss landete im Ziel. Nein, die Geschosse landeten entweder im Wasser oder flogen kilometerweit ins Landesinnere und richteten dort einen Schaden von immensen 500 Dollar an. Selbst die an alldem schuldige Opuntie überlebte die Attacke und steht noch heute gesund und munter auf einem Golfplatz herum. Rache geglückt? Sieht nicht so aus. Das weitaus tragischere Resultat des Angriffs war, dass viele Küstenbewohner aus Angst vor weiteren, verheerenderen Angriffen die Flucht ergriffen. Darüber hinaus wird mit dem Beschuss des Ölfelds auch der Beginn der Internierung japanischstämmiger Menschen in Verbindung gebracht. Tatsächlich unterzeichnete Präsident Roosevelt bereits vier Tage vor Nishinos Rückkehr die Executive Order 9066, die ebendieses legitimierte. Dieser Vorfall mag die Realisierung der Deportationen jedoch beschleunigt haben. Für’n Arsch, Nishino-san. Für’n Arsch.
Seit Kriegsende durchlebte die Stadt mehrere zerstörende Waldbrände und eine Ölkatastrophe, die 1969 die komplette Küste und die Channel Islands verseuchte. Ansonsten wuchs Santa Barbara einfach nur rapide an: 10.000 Neubürger bis 1950, 14.000 bis 1960 und 12.000 bis 1970. 1975 beschlossen die Stadtherren schließlich, den Zuwanderungsboom zu stoppen, indem sie die maximal geduldete Einwohnerzahl Santa Barbaras auf 85.000 beschränkten. Das Bevölkerungswachstum ebbte ab und die Preise stiegen an – extrem. Heute ist Santa Barbara die teuerste Wohngegend der gesamten USA. Der Durschnittspreis für ein Häuschen an der »Amerikanischen Riviera« beträgt lässige 1,3 Millionen Dollar und somit mehr als doppelt so viel wie der kalifornische Schnitt. Mittlerweile leben 90.000 Menschen in Santa Barbara.

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Ich entdecke einen weiteren Paseo, der vielmehr ein überdachter Korridor ist und an einem noblen Innenhofrestaurant und einem merkwürdig platzierten Zimmer vorbeiführt, das mit seiner reich verzierten Holzbank, Marmortisch und Kamin wie ein Warteraum aus der Kolonialzeit aussieht. Verrückt. Der Paseo gehört zum Casa de la Guerra, in dem einst der fünfte Kommandant der hiesigen Garnison lebte. Ich lande in einem Hinterhof, von dem aus ein Gang wieder auf die Straße führt, wo sich die De La Guerra Plaza vor mir auftut.

Als ich den Rasen des gemütlichen Platzes betrete, entdecke ich die verwirrte Alte wieder, bei der Monkey so in Ungnade gefallen war. Glücklicherweise erkennt sie in mir keinen der »bösen« Jungs wieder und lässt mich in Ruhe. Dafür nervt sie ein Pärchen, das nur wenige Meter neben ihr auf der Wiese platzgenommen hat und mit dem ich Sekunden zuvor eine Unterhaltung begonnen habe. Kaum sitze ich, plärrt die Durchwindete, dass sie Wasser für ihre Pillen benötigt. Das Pärchen erklärt ihr, dass es nur wenige Meter neben dem Platz einen Trinkwasserbrunnen gibt. Die Alte schaut hektisch in sämtliche Himmelsrichtungen, sieht aber nirgendwo einen Brunnen. Also wird sie wieder unruhig, wenn nicht sogar gereizt. Die zwei beschreiben der Frau, dass sich die Trinkstelle hinter jenem roten Auto dort befindet, was die verrückte Oma vor das nächste Problem stellt: Sie kann weder ihr Zeug einfach so auf der Wiese liegen lassen noch kann sie es aufheben und mitnehmen. Äh, was? Die nicht wirklich Rüstige steht mühsam auf und beginnt, nach vorne gebückt, wie ein Pendel über ihrem Hab und Gut zu torkeln. Dabei kommt sie der Verzweiflung näher und näher. Bevor sie explodiert, bieten wir drei ihr an, auf ihre Sachen aufzupassen. Damit kann sie leben, kippt nicht um, sondern wackelt mit ihren Pillen zum roten Auto. Mamma mia.
Die Unterhaltung mit dem sympathischen Paar kann nun endlich beginnen. Wie er heißt, weiß ich nicht. Ich bekomme nur mit, dass er Lateinamerikaner und meiner Vermutung nach der Freund der hübschen Frau neben ihm ist. Diese beginnt auch gleich, mir Fragen zu stellen. Sie möchte wissen, ob die ganzen Flaggen auf meinem Rucksack bedeuten, dass ich all diese Länder bereist habe. Ich bejahe dies und ergänze, dass die eine oder andere Flagge wie beispielsweise Kuba jedoch fehlt.
»Cuba?«, fragt sie.
Dass ich in Kuba war, findet man in Amerika immer spannend. Sie bittet mich, ihr vom Karibikstaat zu erzählen. Sie möchte wissen, wo ich alles war und wie ich das Land empfunden habe. Also erzähle ich: Ich berichte davon, dass das Land mich eher geschockt denn begeistert hat. Von Umberto, dem Oppositionellen, den ich gleich am ersten Tag kennenlernte und der meinen Blick auf Kuba nachhaltig prägte. Ich lasse sie wissen, dass das, was man in Kuba als Sozialismus bezeichnet, herzlich wenig mit meiner Auffassung dieses Begriffs zu tun hat. Nein, allzu schön war es nicht, aber interessant, höre ich mich noch sagen und unterbreche alsdann abrupt meinen Vortrag. Ich schaue der Frau, die mir die gesamte Zeit über sehr aufmerksam zugehört hat, in die Augen und bemerke darin etwas. Oh, verdammt. Ich begreife sofort. Naja, also jetzt begreife ich endlich sofort: »You’re Cuban, aren’t you?«
»Yes.«
Ich kneife peinlich berührt meine Augen zusammen, beiße mir auf die Lippen und möchte mich gerade dafür entschuldigen, dass ich so viel an ihrer Heimat kritisiert habe, als ihr Grinsen noch breiter wird und sie mir glücklich mitteilt, dass sie ihre verlorene Heimat soeben wie in einem Film vor Augen gesehen und so vieles aus ihren Erinnerungen wiedererkannt hat, wie schon lange nicht mehr. Wow, das ist rührend. Ich blicke zu ihrem Freund, der mich anlächelt, als hätte ich gerade eine wirklich gute Tat vollbracht. Kurz darauf verabschiedet er sich und ich vertiefe mich mit Maydel, bei der ich nun offensichtlich einen Stein im Brett habe, in eine wirklich schöne Unterhaltung. Die Kubanerin mit dem regenbogenfarbenen Stirnband und dem roten Sweatshirt hat sich vor ein paar Monaten scheiden lassen und ist seitdem obdachlos. Sie führt anarchistische Schriften mit sich herum, glaubt auch daran, möchte sich aber nicht als Anarchistin bezeichnen. Ich erzähle ihr, dass ich morgen Fallschirmspringen werde, was sie mit einer dramatischen Geschichte aus ihrem Leben erwidert: Vor acht Jahren flog sie mit ihrer damals zweijährigen Tochter von der West- an die Ostküste, als die Maschine plötzlich abstürzte. Die Passagiere begannen zu schreien, zu beten oder zu fluchen, wohingegen ihre kleine Tochter Maydel breit angrinste: »Mama, this is a fun ride!«
Also dachte sich Maydel, dass Mutter und Tochter – wenn sie nun schon sterben müssen – doch wenigstens die letzten Augenblicke genießen sollten. Also hatten die beiden Spaß an ihrem Absturz, rissen die Arme in die Höhe und verhielten sich wie auf einer Achterbahn. Plötzlich gewann der Pilot wieder die Kontrolle über die Maschine und der »fun ride« war vorbei. Sie empfiehlt mir, morgen an diese Geschichte zu denken, falls ich vor dem Sprung Angst haben sollte.
»This is a fun ride!«, wiederholt sie und lässt ihr schönes Lächeln wieder aufblitzen.
Na, ich werde es versuchen. Ich bin schon gespannt, wie nervös und ängstlich ich morgen sein werde. Noch geht es, was sicherlich daran liegt, dass ich mir die Situation schlichtweg noch überhaupt nicht vorstellen kann. Ich springe morgen aus einem Flugzeug?
Ich könnte noch Stunden mit Maydel reden, doch leider muss ich meinen Bus bekommen. Wir umarmen uns und wünschen uns gegenseitig alles Gute. Bevor ich abhaue, lasse ich sie noch wissen, dass sie morgen gegen elf Uhr einfach einmal daran denken soll, dass möglicherweise in diesem Moment ein Typ aus drei Kilometern Höhe der Erde entgegenrast und – wenn er es gebacken bekommt – dabei an sie und ihre Geschichte denkt. Kommt ja nicht alle Tage vor und ist doch ein Gedanke, der durchaus reizvoll erscheint. Daraufhin drückt sie mich noch einmal an sich.

Als ich im Bus sitze, setzt die Dämmerung ein und färbt die hügelige Küstenlandschaft zwischen Santa Barbara und meinem neuen Ziel Ventura in ein goldenes Licht. Die Aussicht ist großartig und der Bus irgendwie putzig. So recht will das ein wenig klapprig wirkende Gefährt nicht in das reiche Bild der Stadt passen. Zudem ist der Anteil an hispanischen Passagieren weit höher als auf den Straßen. Der Bus stoppt an einer Haltestelle, die Tür geht auf und Nick Nolte steigt ein. Filmfestival hin oder her, aber: What? Kann doch nicht sein. Ich fixiere den Mann genauer. Er sieht wirklich exakt wie Nick Nolte aus … nur vielleicht zehn Jahre zu jung. Außerdem kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass … okay, wenn dann wohl am ehesten einer wie Nick Nolte. Außer mir fixiert niemand anderes den potenziellen Star, die Tumulte bleiben aus und ich rieche keinen Alkohol. Er ist es wahrscheinlich wirklich nicht.

Santa Barbara – Ventura
Coastal Express (45 Kilometer)

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Nach 70 Minuten verlasse ich den Bus in Downtown Ventura, an der Ecke Santa Clara und Oak Street. Die Mitreisenden vor und hinter mir haben mir diesen Ausstieg als Venturas zentralsten genannt. Es ist kurz vor halb sechs und die Sonne senkt sich immer tiefer. Ich will daher keine große Zeit verlieren und marschiere die California Street in Richtung Strand hinab, um meiner an der Westküste angeeigneten Sonnenuntergangssucht zu frönen.

Über eine Brücke überquere ich den an der Küste entlangführenden Freeway und erreiche den hässlichen, orange-gelben Plattenbau des Crowne Plaza Hotel. Ab hier beginnt der Fußgängerbereich und bei mir das Grübeln: Wo übernachte ich heute? Ich gehe davon aus, dass Ventura nicht wesentlich preiswerter als Santa Barbara ist und mich ein Hostel pro Nacht wieder 30 Dollar aufwärts kosten wird, was bei meinen Ausgaben der nächsten Tage langsam schmerzhaft wird. In einer Mischung aus: »Geil, Sonnenuntergang!«, und: »Verdammt, was mache ich denn nun?«, lasse ich mich weiter wie eine Motte vom immer röter werdenden Licht der Sonne anziehen. Gerade als ich die Promenade erreiche, kommen mir drei angenehm erscheinende junge Menschen entgegen. Ich denke mir, dass man es ja mal probieren kann, und spreche sie höflich an: »Excuse me?«
Die drei – zwei Jungs und ein Mädel – bleiben stehen. Der Längste von ihnen mustert mich von oben nach unten. Nicht aufdringlich, aber ich merke schon, dass er mich ein wenig unter die Lupe nimmt: lange Haare und ungestutzter Vollbart, ein schwarzer Mantel mit einem roten Stern auf der linken Schulter, ein roter Schal um den Hals, ein schwerer Rucksack auf dem Rücken, fingerlose Handschuhe, völlig zerfetzte Schuhe, aus denen mindestens ein Zeh heraussteht … so ganz taufrisch sehe ich nach drei Monaten nicht mehr aus.
»Do you know if there’s a hostel around here?«, stelle ich meine Frage.
»A hostel?«, fragt mich der Lange. Die drei schauen sich kurz gegenseitig fragend an, bevor sie mich mitleidvoll und kopfschüttelnd angrinsen. Der Lange ergreift wieder das Wort und gibt mir die Antwort, die ich als Worst-Case-Szenario befürchtet, aber bei meinem Serendipity der letzten Monate nicht zu träumen gewagt habe: »This is Ventura. There are only hotels where a night’s between 60 and 80 bucks.«
»Oh shit.«
Der Lange mustert mich wieder kurz: »You have an accent. Where do you come from?«
»Germany.«
Es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, dass nur eine Sekunde seit meiner Antwort vergangen ist, als ich zum zweiten Mal am heutigen Tag in ein Augenpaar blicke, in dem vom einen auf den anderen Moment etwas passiert. Diesmal sind es die Augen des Langen. Er macht eine wischende Handbewegung und sagt: »Fuck it. You can crash at my place.«
»No way! Really?«, kommt es aus mir heraus. Das ist ja … das ist doch … was ist denn hier los? Serendipity rules! Rock und Roll! Yeah!
Mein Mainzer Freund Alex hat mir vor Jahren einmal gesagt, dass ich ein Buch über mein Glück schreiben sollte. In den letzten Jahren war mir das aber bei so manchen Dingen etwas abhandengekommen. Auf dieser Reise, mein lieber Alex, scheint es wieder zurück zu sein. Vielleicht schreibe ich ja gerade unplanmäßig das Antibuch für jeden Misanthropen, Pessimisten und Depressiven dieser Welt: »Das Glück des Dennis K.«
Man möge es mir nachsehen, Freunde der Sonne, aber das, was mir in den letzten drei Monaten widerfahren ist, ist schon verrückt. In San Francisco treffe ich Ford auf der Straße, in Portland Brian, dann lerne ich Cari kennen, mit der ich bei Casey lande. Beim Trampen begegne ich Melissa und verbringe dadurch ein paar Tage in Santa Cruz. Im Schnee des Yosemite National Park treffe ich auf Rachel und Lucas, die mich nach Flagstaff einladen und jetzt, zehn Minuten nach meiner Ankunft in Ventura, begegne ich dem Langen. Ich bin auch nicht der Einzige, der die Einladung abfeiert. Sein Kollege, der ein wenig kleiner als ich ist, macht einen kleinen Satz in die Luft und klopft seinem Kumpel freudvoll und anerkennend auf die Schulter. Die Frau, die offensichtlich zum Langen gehört, steht ebenfalls mit offenem und dabei breit lächelndem Mund da. Ladies and Gentlemen, wir haben offiziell den Helden des Tages in unseren Reihen!
Der Heros streckt mir seine Hand entgegen und stellt sich vor: »Hi, I’m Scott.«
»Dennis«, erwidere ich die Begrüßung.
Die anderen beiden heißen Lauren und Kevin.
»Let’s go drink a beer«, schlägt Scott vor und spaziert vorneweg zum 250 Meter entfernten Pier. Bei Eric Ericsson’s kostet das Bier in der Happy Hour nur 2,50 Dollar. Scott besteht darauf, die Runde zu zahlen. Wie cool ist der denn bitte?

Scott ist 27 Jahre alt und arbeitet saisonal als Feuerwehrmann. Er bekämpft die riesigen Waldbrände, die es auch regelmäßig in unsere Nachrichten schaffen. Krass. Kevin und Scott sehen sich heute erstmals seit einem Jahr wieder. Kevin hat einen Dreitagebart und lebt als Biobauer außerhalb der Stadt auf seinem eigenen Hof. Er will expandieren und auch medizinisches Marihuana anpflanzen. Lauren ist ein blonder, hübscher Sonnenschein und doch nicht Scotts Freundin. Zumindest formulieren die zwei es so. Die beiden haben aber was miteinander. Da bin ich mir sicher.
Die Runde ist cool. Ich mag meine neuen Freunde jetzt schon. Sie fragen mich über meine bisherige Reise aus und wollen wissen, was mich nach Ventura verschlagen hat. Ich gebe fleißig Auskunft, erzähle von meinen Abenteuern, von Ford und Cari sowie davon, wie sehr ich Sonnenuntergänge lieben gelernt habe und eigentlich nur deswegen den dreien in die Arme gelaufen bin. Scott lacht und beichtet, dass er eigentlich dachte, dass ich einer der Strandjunkies sei, der sie nur nach einer Kippe anschnorren wollte. Umso erstaunlicher finde ich es, dass er nach diesem ersten Eindruck so schnell zu seiner Einladung zu sich nach Hause umgeschwenkt ist. Der Mann gefällt mir!
Scott teilt mir mit, dass er und seine Eltern noch zu Oma und Opa zum Abendessen eingeladen sind. Er verspricht mir, mich später anzurufen und mich abzuholen. Kevin stößt dazwischen und kündigt an, dass er sich in der Zwischenzeit um mich kümmern wird. Das klingt doch super. Scott und Lauren verabschieden sich kurz darauf und Kevin strahlt mich an während er ein Pfeifchen auspackt: »Let’s go to the beach!«
Ich verbringe gut 25 Minuten mit Kevin am Strand und rauche zwei Pfeifchen mit ihm. Währenddessen schwärmt er mir in den allerhöchsten Tönen vom mir auch sofort unglaublich sympathischen Scott vor: Laut Kevin ist Scott einer der, vielleicht sogar der beste Surfer Venturas. Sie alle drei – Kevin, Lauren und Scott – surfen natürlich. Aber Scott ist der King. Dass sein Freund mich zu sich nach Hause einlädt, zeige wieder einmal die Größe dieses Kerls. Sie selbst sehen sich viel zu selten, bedauert er. Er kennt Scott nun aber schon lange genug, um mir versichern zu können, dass ich dem besten Menschen, dem ich überhaupt hätte begegnen können, über den Weg gelaufen bin. Er wird mich morgen sicherlich auch zum Flughafen bringen oder es mir auf jeden Fall sehr erleichtern, dorthin zu kommen. Ja, fett! Das wäre natürlich der Hammer!
Am Horizont leuchten vier illuminierte Bohrinseln im Meer … und am Strand vier rot verstrahlte Augen. Heidewitzka! Das Biogras der »Amerikanischen Riviera« hat’s in sich. Ich hätte nie gedacht, dass ich den Anblick von Bohrinseln mal romantisch finden würde. Heute Abend tue ich es. Außerdem wundere ich mich darüber, wie nahe die Inseln doch sind. Habe ich denn jemals zuvor Bohrinseln live gesehen? Ich glaube nicht.
»Yeah …«, stimmt mir Kevin nickend zu. Keine Ahnung zu was, aber es wird schon passen. Wenig später beschreibt mir Kevin, wie ich in die Downtown komme und haut ab.
Die Küstenstadt ist so, wie man es sich vorstellt: Überall rennen Surferboys herum. Als ich an eine Ampel komme, nähern sich zwei Skateboarder, die zu spät bemerken, dass die Fußgängerampel rot leuchtet: »Oh fuck«, stoßen sie aus, schmeißen ihre Boards auf den Boden und brettern hochgradig lässig über die Straße, bevor Sekundenbruchteile später die Autos vorbeirauschen. Auf der anderen Seite steigen sie nicht mehr von ihren Boards ab, sondern unterhalten sich im Fahren weiter. That’s Ventura, Baby!
Die Downtown besteht offensichtlich lediglich aus der Main Street, in der kein Haus mehr als ein Obergeschoss hat. In der Main Street befindet sich außer »Things from Heaven – An Angel Store« auch die 1782 gegründete hübsche, weiße Mission, die der Namensgeber Venturas war. Offiziell heißt die 106.000-Einwohner-Stadt nämlich City of San Buenaventura. Eine Straße bergauf – in der Poli Street – thront die pompöse City Hall, vor der Ventura dem Missionsgründer Junípero Serra eine Statue errichtet hat.

Nachdem ich die Straße zweimal auf und ab gelaufen bin, setze ich mich vor eine Bar, in der eine Bluesband spielt. Scott taucht irgendwann auf und sammelt den äußerst breiten Dennis ein.
Scott lebt in einer WG. Auf dem Weg dorthin frage ich ihn, ob er und Lauren nun ein Paar sind oder nicht. Er verneint es etwas halbherzig und klärt mich darüber auf, dass er sich vor Kurzem erst nach neun Jahren von seiner Freundin getrennt hat. Sie waren sogar ein Jahr lang verlobt. Etwas Neues möchte oder kann er eigentlich gar nicht anfangen. Lauren sei aber großartig und er liebt die Zeit, die sie miteinander verbringen. Auf mich wirkten die beiden ebenfalls sehr harmonisch.
In der WG leben fünf oder – die ewig präsente Freundin des einen mitgerechnet – sechs Leute. Alle surfen. Was ’ne Überraschung. Die Clique bewohnt nur unweit der Downtown ein komplettes Haus. Im Wohnzimmer steht ein Schlagzeug. Gibt es irgendein lässigeres Utensil, das man sich in ein WG-Wohnzimmer stellen kann? Ich wage es zu bezweifeln. Scotts Mitbewohner sind allesamt cool. Jeder begrüßt mich freundlich. Dummerweise kann ich mir nur die Hälfte der Namen merken. Da wäre zum einen das Pärchen. Er ist primär Taucher. Neben dem Gerätetauchen praktiziert er auch free diving … und spear diving. Hm. Surfen kommt erst an zweiter Stelle. Damit ist er der große Außenseiter in der Hemlock-Street-WG. Was sowohl er als auch seine Freundin hingegen mit den anderen gemeinsam haben, ist die Tatsache, dass sie verdammt gut aussehen. Vom Kollegen, der sein Zimmer direkt hinter der mir anvertrauten Couch hat, bekomme ich nicht viel mit. Er scheint mir der Ruhigste der sechs zu sein. Ich lerne noch Casey kennen, der in meinen Augen wie der junge Henry Rollins aussieht. Er ist ebenfalls ein ganz schönes Tier, hinterlässt aber nicht annähernd einen solch wütenden Eindruck wie die Punklegende.

Video


Scott fragt mich, ob ich nicht auch zum Surfen nach Ventura gekommen bin, was ich fast schon peinlich berührt verneine: »I’ve been to Hawaii for ten weeks and I’m traveling the West Coast for three months now, but I never even managed to try it once.«
»You never surfed?«
Ich schüttle mit dem Kopf.
»Well, we gotta change that«, bestimmt er und lädt mich ein, morgen früh mit ihm surfen zu gehen und mich danach zum Flughafen zu fahren. Sind nur 15 Minuten one-way, erklärt er. Überdies hat er zurzeit sowieso keine Arbeit und dementsprechend nichts zu tun. Somit kann er mir auch das Surfen beibringen und mich danach zu meinem Fallschirmsprung fahren. Was für ein genialer Typ!
Wir sitzen in einer wirklich tollen Runde beisammen, als mit einem Mal der Strom ausfällt und wir im Dunkeln hocken. Das irritierte Schweigen wird von Casey gebrochen: »Oh yeah, sorry guys. That reminds me on something: I forgot to tell you that I got a call. We will have electricity interruptions tonight. – Did anyone else get that call?«
Die Runde bricht in großes Gelächter aus. Offensichtlich hat niemand sonst einen solchen Anruf erhalten. Schnell werden ein paar Kerzen ausgepackt und Scott schlägt vor, dass ich mein Notebook einschalte und der Runde »Erinnerungen« präsentiere. Schließlich habe man nicht jeden Tag Besuch von einem europäischen Filmemacher. So wird’s gemacht. Irgendwoher kommt die Info, dass der Strom bis morgen früh um sieben wegbleiben wird.
Später, als alle schon in ihren Betten liegen, kommt mit Steve noch der letzte Mitbewohner nach Hause, der nur mal kurz die stromlose Lage checken möchte und mit dem ich nicht viel mehr als ein: »Hi«, austausche. Dann schließe auch ich die Augen, freue mich über diesen schon wieder großartig verlaufenen Tag, über Scott, Kevin, Lauren, die WG und meinen morgen anstehenden Abenteuertag. Das Einzige, was mich beunruhigt, ist mein Hals, der mir seit heute schmerzt. Ich fürchte, ich habe mich erkältet, was knapp 30 Stunden vor meinem Tauchtag natürlich ein äußerst schlechtes Timing darstellt. Zum Glück muss ich nicht auf der Straße schlafen oder 60 bis 80 Dollar für ein Hotel blechen. Thank Scott …

Quellen

Informationen zu Santa Barbara und Jack Powers: Wikipedia

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