Tag 84: Anleitung zum perfekten Tag, oder: Wie ich zur »German Legend of Ventura« wurde

Serendipity – Teil 2

Sky Dive 182

Freitag, 1. Februar 2013
Ventura – Camarillo – Venutra – Ojai – Ventura

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»Some surfing before I fly … Life’s good!«
»YOU ASSHOLE!«
Genau das wollte ich von Cari hören, bevor ich mich nach dem Surfen aus einem Flugzeug stürze. Ja, heute ist der große Tag: Ich werde zum ersten Mal surfen und danach erstmals mit einem Fallschirm auf dem Rücken aus einem Flugzeug springen.
Der Tag beginnt gegen acht Uhr mit von Scott zubereitetem Oatmeal.

Nach dem Frühstück führt er mich durch den recht großen Garten, der sich hinter dem Haus erstreckt, in Richtung Holzschuppen. Es sieht so aus als würden die Jungs ihren Garten tatsächlich pflegen. Neben einigen sukkulenten Pflanzen gedeihen darin auch ein Mandarinen- und ein Avocadobaum. Traumhaft! Vor dem Holzschuppen parkt darüber hinaus noch das Boot des tauchenden und fischenden Mitbewohners. Ein eigener kleiner Kutter … Auch das hat was. Je mehr ich von der WG mitbekomme, desto mehr festigt sich mein Eindruck, dass die Jungs in paradiesischen Verhältnissen leben.

Es wird noch besser: Als Scott den Schuppen öffnet, kenne ich ihn bereits. Ja, so sehen Holzschuppen von Surferboys in Hollywoodfilmen aus: Der gesamte Schuppen – und der ist groß, locker 30 m² – ist bis unter die Decke mit Surfbrettern und Neoprenanzügen vollgepackt. Scott stellt sich wie ein Weinliebhaber, mit Daumen und Zeigefinger am Kinn, vor die Bretter und überlegt, welcher Tropfen, äh, welches Brett denn zu mir passen müsste: keines. Hä? Scott erklärt mir, dass es noch weitere Bretter in der Garage seiner Eltern gibt. Dort wäre ein geeigneteres für mich. Okay.
Wir beladen Scotts Truck. Mein neuer Kumpel ist in äußerst putziger Weise total stolz auf seinen kürzlich erworbenen Isuzu, der wohl aus den 80ern stammen dürfte. Die hintere Stoßstange ist von einem Unfall des Vorbesitzers komplett eingedrückt und muss – damit sie nicht abfällt – mittels einer Wäscheleine an das Fahrzeug gebunden werden. Auch sonst wirkt das Vehikel nicht mehr allzu taufrisch, doch Scott liebt die hässliche Kiste. Von wegen durchtrainierte Surfer stehen nur auf schicke Autos, um einen auf dicke Hose zu machen. Überhaupt fällt mir auf, dass Scott unfassbar unprätentiös und uneitel ist. Was er auch macht: Er wird mir von Minute zu Minute sympathischer und sympathischer.
Als wir bei Scotts Elternhaus in der South Seaward Avenue ankommen, begrüßt uns seine Mutter stürmisch. Nun ja, sie begrüßt Scott mit einer liebevollen und erleichterten Umarmung: »You’re alive!«
Ich glaube, mir den Gefühlsausbruch selbst erklären zu können, doch Scotts Mutter lässt es, meine Hand schüttelnd, sich nicht nehmen, mir den Grund ihrer Freude zu offenbaren: »Excuse me, but Scott told us last night that he invited you to his place without knowing anything about you. And as a mom … You know?«
Ich lache, was bei Scotts Mutter ebenfalls zu einem noch breiteren Lächeln führt: »Ah, but you’re obviously a nice guy!«
»Thank you«, freue ich mich und empfinde auch Scotts Mom sofort als sehr liebenswürdig. Scott erklärt seiner Mama, dass wir uns nur schnell das nötige Equipment aus der Garage nehmen und zu meiner lebensersten Surfstunde an den Strand fahren werden.
»Awesome!«, freut sie sich mit mir – oder uns – und fügt an, dass sie ebenfalls gleich runterkommt. Die Frage, ob sie auch surft oder nur kommen will, um mich auszulachen, spare ich mir lieber. Ich will meinen Status als »nice guy« nicht ruinieren, indem ich eine 50-jährige Frau beleidige, die am Ende vielleicht schon seit 45 Jahren surft und währenddessen achtmal Weltmeisterin wurde. Es kommt mir nämlich mehr und mehr so vor, als hätten die Menschen der »Amerikanischen Riviera« Biografien, die für unsereins zu fantastisch klingen. Immerhin kann ich in Erfahrung bringen, dass sie Schulbücher in Blindenschrift transkribiert.
Mutter und Sohn unterhalten sich leidenschaftlich über Wellen und sonstiges Surfergarn, während ich staunend danebenstehe und mir absolut sicher bin, dass diese Mutter ihrem Sohnemann niemals vorwerfen würde, zu viel zu surfen und somit seine Zukunft zu vernachlässigen. Surfen, das wird mir gerade mehr als deutlich, ist eine Lebenseinstellung, und diese beiden haben sie offensichtlich verinnerlicht. Mensch, sind die cool.
Nun geht’s in die Garage zum Ausrüsten. Bis auf die Tatsache, dass diese Garage eine klassische Garage und kein großer Gartenschuppen ist und außerdem ein Auto beherbergt, ähnelt die Ausstattung doch sehr derjenigen der Surfer-WG: Surfbretter, Neoprenanzüge, Leinen, Surfbretter. Scott wählt ein erschreckend langes Brett für mich aus. Das Teil ist bestimmt zweieinhalb Meter lang.
»Is this the beginner board?«, frage ich ehrfurchtsvoll.
»It’s an easy one and it fits to the waves we have.«
Ich habe keinen Plan, woher er weiß, wie die Wellen heute aussehen. Doch er ist der Fachmann. Vermutlich hat er auf dem Weg zum Haus der Eltern in den weit entfernten Schaumkronen gelesen, es am Salzgehalt der Luft erschnuppert oder am Geräusch des Windes gehört. Vielleicht hat uns seine Mama auch die Wellen beschrieben, während ich gedankenverloren danebenstand und erst einmal damit klarkommen musste, wie lässig die zwei sind. Außer dem Brett bekomme ich einen Neoprenanzug und eine leash in die Hand gedrückt. Die Leash ist ein Knöchelband, das man sich per Klettverschluss an das auf dem Brett hinten positionierte Bein bindet. Die Leine hat zwei Funktionen: Sie soll verhindern, dass man das Brett in der Brandung oder Strömung verliert und sie soll der Orientierungslosigkeit entgegenwirken, die man bekommen kann, wenn einen eine Welle wie durch die Waschmaschine im Kreis schleudert. Da das aus Hartschaum bestehende Surfbrett Auftrieb hat, bekommt man durch den Zug der Leash mit, in welcher Richtung oben ist. Gleichzeitig kann die Leine jedoch auch dafür sorgen, dass das Brett zurückschnellt und einen k.o. schlägt … bilde ich mir zumindest mal ein.

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Wir parken den klapprigen Isuzu auf dem Parkplatz vor dem Crowne Plaza. Auch Casey rückt gerade mit seinem Wagen und Board an. Gemeinsam wachsen wir die Bretter. Das dient der Griffigkeit.

Am Strand legt Scott sein Board auf den Sand und erklärt mir, was ich gleich im Wasser zu tun haben werde. Er legt sich auf sein Board und paddelt mit den Armen über den Sand. So schwimmt man raus. Das hätte ich sogar selbst gewusst. Diese Bewegung, erklärt er weiter, macht man auch, um auf die Welle zu kommen. Sobald die Welle kommt, soll ich so kraftvoll wie möglich in Richtung Strand paddeln und im richtigen Moment – dabei wird er mir helfen – aufspringen. Beim Aufrichten sei es wichtig, dass ich weder den Kopf noch die Schultern über das Brett hinaus bewege. Um die Balance halten zu können, muss alles über dem Brett bleiben. Alles klar: Daran wird’s scheitern. Das weiß ich jetzt schon. Trotzdem nicke ich natürlich und versuche mir mein Grinsen zu verkneifen. Hoffentlich enttäusche ich meinen Coach nicht zu sehr.
»Repeat it!«, fordert er mich auf, räumt das Brett und deutet mit dem Finger darauf. Ich lege mich auf den Bauch, paddle über den Sand und springe auf. Yeah, wie ein Pro.
»Okay, that’s interesting«, höre ich Scott auf einmal sagen.
»Huh?«
»Are you left handed?«
»Ah«, verstehe ich und kann sogar kurz angeben, »I’m goofy.«
Scott ist natürlich schwer beeindruckt und fragt, ob ich Erfahrungen mit dem Skate- oder Snowboard habe. Ich verneine. Gut, ich habe Snowboarden mal ausprobiert, fand’s aber verglichen mit Skifahren zu lahm und meinen Hintern irgendwann zu nass. Außerdem ist das schon ewig her. Zehn Jahre? Dennoch weiß ich, dass Linkshänder beim Surfen, Boarden und Skaten in der Regel ihren rechten Fuß und Rechtshänder ihren linken Fuß in Fahrtrichtung vorne stehen haben. Da wir in einer sinistrophoben Welt leben, diskriminiert man meine Minderheit, indem man die Standardposition der Majorität als »regular« und die unsere als »goofy«, also albern oder dämlich, bezeichnet. Wenn ich: »I’m goofy«, sage, so geschieht dies voll Selbstbewusstsein und mit einer gehörigen Portion Angriffslust. Linke Faust nach oben: Revolution!
Zurück zum eigentlichen Thema: Ich soll Scott noch ein, zwei weitere Male den Bewegungsablauf vormachen, bevor er ihn als praktisch anwendbar abnickt und mit mir zum Wasser stapft. Das Board ist überraschend schwer und wegen seiner Länge auch ziemlich doof zu tragen. Ein weiteres Mal merke ich, dass ich unbedingt mal wieder regelmäßig Sport treiben sollte. Ist ja peinlich.
Wir paddeln hinaus. Obwohl ich lange Zeit Schwimmer und in meiner Altersklasse sogar mal Vize-Rheinland-Pfalz-Meister über 100 Meter Schmetterling war, hängt Scott mich ab. Das liegt daran, dass seine Armmuskeln deutlich ausgeprägter sind als meine, und daran, dass einem das Wissen, wie man schnell schwimmt, herzlich wenig hilft, wenn man auf einem Brett liegt, das so breit ist, dass eigentlich nur die Unterarme ins Wasser tauchen. Mit Schwimmen hat das wenig zu tun. Ich will aber nicht nach Ausreden suchen. Ganz im Gegenteil: Scott weckt meinen Ehrgeiz. Spätestens jetzt merke ich auch, dass ich beim Surfen eine gute Figur machen möchte und nicht wie damals in der Inlineskating-AG, wo ich es als weniger erbärmlich empfand, möglichst bescheuert und mit viel dummem Gelächter zu stürzen, anstatt den Sport richtig zu lernen und seriös auf die Schnauze zu fallen. Nein, heute will ich auf Wellen reiten! Als ich bei Scott ankomme, versuche ich mein schon ganz schön lautes Schnaufen zu unterdrücken. Alter, bin ich aus der Form. Scott bleibt der charmante Kerl, der er schon die gesamte Zeit über ist, und spart sich einen dummen Spruch. Und das, obwohl ich wahrscheinlich mit hochrotem Kopf vor ihm im Wasser treibe und leidlich »goofy« wirke, krampfhaft nicht zu japsen.
»Okay, you remember the steps? Paddle, get up at the right moment and don’t go over the board with your head or shoulders.«
Klingt simpel, krieg ich hin. Ich nicke.
»Good«, nickt auch Scott und schiebt mich in Position. Er sagt, dass er mir Starthilfe geben und: »Now!«, brüllen wird, sobald der Moment gekommen ist, an dem ich mich aufrichten soll. Alles klar. Die Welle kommt. Wie hoch ist sie? Vielleicht einen halben Meter? Scott schwimmt hinter meinem Brett und hält es fest. Plötzlich drückt er das Brett und ruft: »Paddle, paddle, paddle!«
Ich hacke meine Unterarme so kraftvoll und schnell wie möglich ins Wasser.
»Faster, faster!«
Ich hacke meine Unterarme noch kraftvoller und noch schneller als eigentlich möglich ins Wasser.
»Harder!«
Ich … boah!
»Now! Now! Get up!«
Ich springe auf und … falle direkt nach hinten um. Verdammt!
Ich kenne das Gefühl noch von früher, als ich meinem strengen Schwimmtrainer entgegengeschwommen bin, nachdem ich versagt habe. Gleich fliegt mir eine Badelatsche ins Gesicht. Doch Scott ist anders. Liegt vielleicht an der fehlenden DDR-Leistungssportvergangenheit des Kaliforniers.
»Yeah, was actually quite okay. Remember to keep your head over the board. And you also don’t have to jump. Get up slow and concentrated. Keeping the balance is the important part.«
Wir bringen uns beziehungsweise mich wieder in Position. Diesmal werde ich eins zu eins das machen, was Scott mir gesagt hat. Diesmal wird es klappen! Die Welle kommt. Scott drückt. Ich paddle. Scott feuert mich an. Ich paddle. Scott gibt das Zeichen zum Aufrichten. Ich stehe langsam und bedacht auf. Ich stehe, die Welle unter mir. Ich stehe. Ich bleibe stehen. Ich stehe noch immer. Irgendwo hinter mir höre ich Scott jubeln. Ich schaue nach vorne, sehe den Strand. Der kommt immer näher, denn, ja: Ich reite die verdammte Welle! Wie geil ist das denn? Ich habe keine Ahnung, wie oder ob ich verkrampft aussehe, aber Fakt ist, dass ich die Welle bis zum Strand durchreite und lässig im knöcheltiefen Wasser absteige. Wie krass! Ich drehe mich um und sehe Scott weit hinter mir im Wasser die Arme in die Luft strecken und jubeln.
»Yes!«, rufe ich ihm mit geballter Faust zu, schnappe mir mein Board und paddle zu ihm zurück.
»Awesome!«, empfängt er mich. »Now let’s see if this was a coincidence or if you’re gifted.«
Ich grinse, bin aber von der Paddelei schon wieder ganz schön fertig. Die Welle kommt. Wir machen es wie gerade eben. Ich richte mich auf …
Machen wir es kurz: Ich versuche mich an insgesamt sechs Wellen. Bis auf die erste Welle, reite ich jede weitere bis zum Strand durch. Scott und ich kommen aus dem Jubeln nicht mehr heraus, wobei ich nach der dritten oder vierten Welle ohne meine Arme juble, da ich sie kaum noch hoch bekomme. Casey gesellt sich zu uns. Wie ich beim Verlassen des Wassers von Scott erfahre, fragt er ihn bei einem meiner Höllenritte, ob er auch davon ausgeht, dass ich ein Betrüger sei, der lediglich kostenlos an Surfausrüstung kommen wollte und sich daher als Anfänger ausgibt. Als Scott mir die Verschwörungstheorie mit einem Lächeln darlegt, fühle ich mich zunächst einmal sehr geehrt und kichere kurz auf. Dann erkenne ich aber, dass darin auch eine mehr oder weniger subtil gestellte Frage im Raum steht: Hast du uns verarscht, Dennis? Mein stolzes Kichern geht in lautes Gelächter über, während der Stolz über meine offenbar unglaubliche Leistung wächst und wächst.
»No!«, lache ich und schwöre, dass ich mich noch nie zuvor auf einem Surfbrett probiert habe. Scott lächelt zufrieden, während Casey den Kopf schüttelt: »I don’t believe you a single word.«
Nun muss ich losprusten: »Was it so spectacular?«
Scott schaut mich an: »I’ve never seen a beginner riding five out of his first six waves. – You’re Germany’s best surfer.«
Mittlerweile habe ich vor Lachen Tränen in den Augen: »How many German surfers do you know?«
Jetzt kann auch Scott nicht mehr an sich halten: »That’s why you might be the best!«
Er glaubt mir, wohingegen Casey mehr als skeptisch bleibt.
Als wir die Autos erreichen, kommt Kevin vorgefahren: »You’re still with Scott?«, begrüßt er mich überschwänglich.
»He stood five of his very first six waves«, weiht Scott Kevin in meine Meisterleistung ein.
»What? No way! You’re a liar!«
Letzteres richtet er an mich und reiht sich in Caseys Verschwörungstheorie ein. Ich schwöre erneut, dass es der Wahrheit entspricht und ich selbst davon überrascht bin, Deutschlands bester Surfer zu sein: »The German Legend of Ventura«.

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Wir verlassen den kostenpflichtigen Parkplatz. Casey fährt als Erstes durch die Schranke. Um Geld zu sparen, heizen die Jungs immer mit zwei Wagen direkt hintereinander durch die offene Absperrung. Gerade als Scott und ich unter der Schranke stehen, kommt diese plötzlich wieder auf uns runter. Wir brüllen beide auf: »Argh!«
Kurz bevor der Fallbaum auf unser Dach knallt, bemerkt der Sensor den Blechhaufen und stoppt die Schranke haarscharf über uns. Da wir mittlerweile sehr geübt darin sind, jubeln wir wieder.
»That has never happened before«, schmunzelt Scott und drückt aufs Gas. Wir müssen auch langsam los: Wie Scott mir gestern Abend versprach, fährt er mich zum Camarillo Airport. Auf die erste Surfstunde folgt nun also der erste Fallschirmsprung. Erstaunlicherweise rutscht mir mein Herz noch immer nicht in die Hose. Nein, ganz im Gegenteil: Ich bin so was von scharf darauf, endlich aus einem Flugzeug zu springen! Ich werde mir selbst schon fast ein wenig unheimlich. Hat das Surfen in mir so viel Adrenalin, Endorphin oder gar Überheblichkeit freigesetzt? Egal, mir geht’s einfach nur verdammt gut. Während mir diese Gedanken durch den Kopf gehen, bemerke ich, dass auch Scott über irgendetwas grübelt. Als er merkt, dass ich ihn beobachte, schaut er zu mir rüber: »You know«, fängt er an, »it was such a pleasure to watch you surfin’ for your very first time …«
Er wirkt so ernst. Scott richtet seinen Blick wieder nach vorne und erklärt mir, wie er unseren Morgen am Strand wahrgenommen hat: Obwohl er selbst heute keine einzige Welle gesurft hat, sei dies eines seiner schönsten Surferlebnisse an seinem Hausstrand gewesen. Ich verstehe nicht so recht, lasse ihn aber einfach ohne Zwischenfragen weiterreden. Als er 15 war, fährt er fort, kam er nach Ventura und hatte sein erstes Surferlebnis an genau derselben Stelle wie ich gerade. Doch bis vor einer Stunde konnte er sich daran eigentlich gar nicht mehr erinnern. Dank mir war er nun aber in der Lage, all das noch einmal zum ersten Mal zu erleben. Er hat durch meine Augen gesehen, wie es ist, Ventura erstmals vom Wasser aus zu sehen. Er erinnerte sich, wie es ist, sich erstmals vom Brett zu erheben, die Balance zu halten und die Welle unter sich zu sehen. Wie sich die Freude in einem aufbaut, weil man stehen bleibt und bis zum Strand reitet. All das, beschließt der Romantiker seinen Vortrag, konnte er dank mir wieder sehen und sogar fühlen. Und es fühlte sich großartig, besonders an. Als ich davon ausgehe, dass er fertig ist, und eigentlich nur schweigsam respektvoll, langsam mit dem Kopf nicke, setzt er wieder an: »You inspire me, Dennis.«
Ich schaue ihn etwas ungläubig an.
»No, really!«, widerspricht er meiner stummen Skepsis und erklärt sich: »You’re doing what you want to do in life. You want to make movies, so you make them. You want to write books: You write them. You don’t want to exploit animals: You become a vegan. You want to see the world: You go. That’s fucking awesome, Dennis.«
Was soll man da sagen? Ich hauche ein leises: »Thank you«, und bin froh, dass er keine weitere Reaktion von mir erwartet, sondern noch einen drauflegt: »And as I’m so happy that we met and this day is so great … I’ll jump with you.«
»No way!«, brüllt es aus mir heraus, während ich gefühlt einen halben Meter von meinem Sitz abhebe und mit Scott in die nächste Jubeltirade verfalle. Sekunden später parken wir den Wagen auf dem Flughafenparkplatz. Ich habe mit meiner Anmeldung einen Code für das Türschloss zum Flugfeld zugeschickt bekommen, den ich mir natürlich nicht aufgeschrieben habe. Ich überlege also, ob ich den Code noch hinbekomme, während Scott mir erzählt, dass er schließlich schon immer einmal Fallschirmspringen und sein geliebtes Ventura schon immer einmal von oben sehen wollte: »I’m here since high school, but I even didn’t know that you can do skydiving here.«
Auch das klingt wie ein an mich gerichtetes Kompliment. Würde ich ihm jetzt noch erzählen, was ich an ihm alles cool finde … Rosamunde Pilcher würde vor Neid erblassen. Es sieht so aus, als bahne sich eine neue Bromance an.
Erstaunlicherweise habe ich mir den korrekten Zahlenschlüssel gemerkt und öffne uns die Tür zum Flugfeld. Die Schule befindet sich auf der Rückseite des Gebäudes, das sich direkt vor uns befindet. Das Office von Skydive Coastal California erinnert an eine Tauchschule. Es gibt einen Anmeldetresen, der Bereich, in dem die Ausrüstung vorbereitet wird und mehrere Sofas, auf denen es sich die Gäste gemütlich machen können. Der Bereich für die Ausrüstung ist ein vom restlichen Raum durch ein Mäuerchen abgetrennter Flur, auf dessen Boden zwei Fallschirme liegen, die von einem Mitarbeiter verpackt werden. Ein unverschämt niedliches Hündchen schläft entspannt auf einem der Sofas, was auf so manchen Gast sicherlich eine beruhigende Wirkung hat. Bei Scott und mir regieren derweil noch immer die Endorphine und das Adrenalin, was mich – zumindest in Bezug auf meine Person – nach wie vor leicht verwundert. Ich trete an den Tresen, lasse das Mädel dahinter wissen, dass ich der Termin für halb elf bin und frage sofort, ob es im Flieger noch einen Platz für Scott gibt. Normalerweise buchen die Leute zwei Wochen bis Monate im Voraus, erklärt mir die Anfang 20-Jährige mit den grün gefärbten Haaren. Da ich erst vorgestern gebucht habe, bin ich der Einzige im Flieger. Von daher ist es kein Problem, Scott noch mitzunehmen. Yeah!

»Do you wanna have photos or a video of your jump?«
Das Video ist mit 99 zusätzlichen Dollar zwar unverschämt teuer, aber ein Video vom ersten und vielleicht ja sogar einzigen Fallschirmsprung des Lebens bekommt man eben nur einmal. Von daher: aber hallo! Die Fotos nehme ich vielleicht sogar auch noch. Scott verzichtet.
Eine Gruppe glücklich aussehender Menschen betritt den Raum. Sie haben ihren Sprung hinter sich. Sieht so aus, als gäbe es wirklich keinen Grund nervös zu werden. Wir bekommen unsere Tandempartner vorgestellt. Mein Kollege heißt Brandon, Scotts Dan. Brandon ist ein etwas dickerer Kerl, dessen dicke Backen und Gesichtsausdruck mich an einen Biber erinnern. Dan hat schulterlange dunkle Haare, ein rotes Stirntuch und ein Lippenpiercing. Die Jungs mit den roten T-Shirts entsprechen da schon eher dem Klischee der überzogenen Trendsportfreaks als der ruhige und entspannte Scott. Nichtsdestotrotz finde ich die beiden ganz ulkig. Auch wenn sie ständig Sprüche à la: »Do you really think this is a good idea?«, oder: »Are you ready to get extreme?«, von sich lassen. Scott wird sich später ständig darüber lustig machen und die Jungs bei jeder Gelegenheit mit übertriebener Stimme nachäffen. Die blonde Pilotin finden wiederum sowohl Scott als auch ich sehr … ähm, ansprechend.
Mit einiger Verzögerung geht es gegen halb zwölf endlich los. Auf dem Weg zur braun-gelben Cessna, die uns auf drei Höhenkilometer bringen wird, frage ich Brandon, ob man als Skydiver auch Logbuch führt beziehungsweise, ob er weiß, wie oft er sich bereits aus einem Flugzeug gestürzt hat.
»Sure«, antwortet er, klickt ein, zwei Knöpfe seiner Armbanduhr, streckt sie mir entgegen und sagt: »This will be number 8877.«
Heiliger Bimbam! Spätestens jetzt müsste ich mir wirklich keinen Kopf mehr machen … wenn ich es denn mittlerweile mal täte. Ich frage, wie viele Gäste einen Rückzieher machen.
»Few, very few«, lautet die doch überraschende, vielleicht auch nur psychologische Antwort. Wenn, erklärt Brandon, bleiben die Leute direkt auf dem Boden. Sobald sie im Flieger sitzen, springt eigentlich jeder. Außerdem lassen sie den Gästen keine Zeit zum Nachdenken, sobald die Tür geöffnet ist. Ob das nun psychologisch wertvoll war, lasse ich mal dahingestellt. Wir vier aber bleiben locker, flachsen miteinander. Brandon fragt, wie wir auf die Idee kamen, mit dem Fallschirm abspringen zu wollen. Ich erzähle ihnen meine Geschichte: Dass ich seit drei Monaten reise und von Chris ausgeladen wurde. Dass ich in Ventura gelandet bin, um mir die letzte Woche meines Trips nicht mit Wutgedanken zu versauen, sondern sie mit Leben und Abenteuer zu füllen und dabei auf den besten Menschen getroffen bin, der mir nur hätte begegnen können. Scott schaltet sich ein und erzählt, dass ich heute Morgen zum ersten Mal … Die Story ist nun hinlänglich bekannt.
Ich möchte von Brandon wissen, ob es möglich ist, mit der an seinem Handgelenk befestigten Kamera auch Scott zu filmen. Er wiegt den Kopf hin und her und erklärt, dass dies nur bedingt möglich ist, und auch nur dann, wenn Scott und Dan zuerst springen. So soll es denn sein.

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Brandon spreizt seinen Arm seltsam in die Höhe. Das heißt wohl, dass er jetzt mit der Handgelenkskamera filmt. Er fragt, ob ich nervös bin, Angst davor habe, mich aus 10.000 Fuß in die Tiefe zu stürzen. Ich markiere den doofen Europäer und lasse ihn wissen, dass ich nur das metrische System beherrsche und mir »10.000 Fuß« daher keinen Schrecken einjagen können.
»Three thousand meters! Three thousand meters«, fällt er mir ins Wort.
Das hätte er mich besser nicht wissen lassen, schauspielere ich, greife mir nervös an die Blase und trete den Rückzug an.
»Now he’s scared!«, freut sich Brandon und fordert mich auf, noch ein paar »letzte Worte« an meine Freunde und Familie in die Kamera zu sprechen: »Enjoy your life. Have fun.« – Wow, kreativ.
»Exactly. Alright man. Let’s go do this!«
High five und lässig den Daumen sowie den kleinen Finger abspreizen. Das Zeichen kenne ich seit meiner Hawaiireise: Hang loose. Brandon macht das alle zwei Minuten. Aus Gewohnheit spreize ich jedoch immer den Zeigefinger anstelle des Daumens ab. Bin nun mal ein harter Hund.
Kurz darauf besteigen wir den Flieger. In der Cessna gibt es nur einen Sitz und der ist für die Pilotin. Brandon und ich setzen uns auf den Boden dahinter, Dan und Scott machen es sich zwischen Tür und Pilotin gemütlich. Die Maschine startet, der Propeller beginnt zu rotieren und die Cessna, Baujahr 1965, setzt sich schaukelnd in Bewegung. Alleine der Flug in der kleinen Maschine macht schon Spaß. Scott und Dan versuchen, mit weiteren Sprüchen für Unruhe zu sorgen, was ihnen jedoch nach wie vor nicht gelingt. Ich erzähle stattdessen, dass ich die Idee hatte, mir mit Edding: »Fuck you, Chris!«, auf die Hand zu schreiben, diese in die Kamera zu halten und Chris, dem Feigling, das Video zukommen zu lassen. Brandon und Dan brechen unisono in begeistertes Grunzen aus und fragen die Pilotin vehement, ob sie einen Edding oder wenigstens einen Kugelschreiber einstecken hat. Sie hat keinen. Dafür habe ich das Gefühl, dass Scott und ich die Sympathien der beiden Jungs nun vollends auf unserer Seite haben. Kein schlechtes Gefühl, wenn man jemand Fremdes sein Leben anvertraut. Aber habe ich schon erwähnt, dass ich noch immer keine wackligen Knie, kein flaues Gefühl in der Magengegend und keinen Schweißausbruch habe? Ich toller Typ.
Schon hoch in der Luft fällt mir erst auf, dass Brandon und Dan uns gar nicht erklärt haben, wie man überhaupt landet. Bisher wissen wir nur, dass wir den Rücken durchdrücken, den Kopf in den Nacken legen, die Beine leicht anwinkeln und bis zum Zeichen – einem Schulterklopfer – die Hände am Gurt behalten sollen. Aber wie landen wir?
»It’s like walking down stairs«, kämpft Brandon lautstark gegen das Rotorengeräusch an. Aha? »Well, you just make a step down … like walking down stairs.«
Okay. So simpel ist also Fallschirmspringen.
»You’re still sure this is a good idea?«, plärrt Brandon zum gefühlt zehnten Mal.
»Yes«, rufe ich zurück – wie immer.
»So let’s get extreme. EXTREEEME!«
Wir erreichen die 10.000 Fuß und bekommen hässliche Schutzbrillen. Brandon und Scott springen mit Sonnenbrille. Klar, die sind ja auch extrem. Ohne dass ich es mitbekomme, werde ich mit vier Karabinern an Brandons Gurt gebunden. Die Tür öffnet sich. Scott und Dan drehen sich zur Öffnung. Der Wind weht in die Maschine. Scott hebt seine Füße aus dem Flieger und schwupp … So schnell habe ich noch nie zwei Menschen verschwinden sehen. Brandon und ich robben uns rückwärts auf dem Hintern zur Tür. Von Scott und Dan ist nichts zu sehen. Ich halte mich am Rahmen fest und stelle meinen Fuß außerhalb des Fliegers auf eine Stange. Von einem flauen Gefühl fehlt noch immer jede Spur. Ist das geil. Brandon hat nicht zu viel versprochen. Ich sitze keine zwei Sekunden, als Brandon uns einen kleinen Ruck gibt und wir kopfüber aus der Maschine stürzen. Noch am Boden fragte mich Brandon, ob ich lieber einen Salto vorwärts oder rückwärts aus der Maschine machen möchte.
»Whatever is cooler«, gab ich zurück, woraufhin er mich noch einmal fragte. »Give me the crazy shit«, untermauerte ich noch einmal meinen Wunsch nach Spektakel. Wer weiß, ob ich davon überhaupt etwas mitbekomme, wunderte ich mich. Jetzt kann ich sagen: Ich habe keine Ahnung, wie oft und in welche Richtung wir uns drehen … aber es ist genial. Ja, der Sprung aus dem Flieger ist das vielleicht aufregendste, beste, legendärste Körpergefühl, das man sich jenseits eines Orgasmus vorstellen kann. Ich bin davon ausgegangen, das typische Achterbahngefühl zu bekommen: Die Eingeweide schieben sich in Richtung Hals, der Körper fühlt sich schlaff an. Aber nein: Die Innereien bleiben, wo sie hingehören und der Körper … Ich fliege! Ja, ich fliege! Selbst vom dicken Brandon auf meinem Rücken merke ich nichts. Würde er nicht wie ich vor Freude den einen oder anderen Schrei loslassen, würde ich mich vermutlich sogar fragen, ob die Karabiner nicht gehalten beziehungsweise er sie überhaupt festgemacht hat. Es ist das Gefühl völliger Freiheit und es macht süchtig! An bewusst gespürte Angst erinnere ich mich nicht.
Nach 30 Sekunden des freien Falls zieht Brandon die Reißleine, der Fallschirm geht auf und der Sturz wird abgebremst. Schmerzvoll oder unschön ist auch das nicht. Nein. Wir werden in die Vertikale gezogen und das Hirn setzt wieder an, logischer zu funktionieren. Erst jetzt genieße ich das Bild der Landschaft: die grünen Hügel, das blaue, endlose Meer, die Sonne am strahlend blauen Himmel.
»What do you think of that?«, fragt Brandon.
»Rock and roll!«
Der Flug mit dem Fallschirm dauert knapp fünf Minuten. Brandon drückt mir die Lenkseile in die Hände und zeigt mir, was man für lustige Dinge mit so einem Fallschirm machen kann. Zieht man das linke Seil stark nach unten, dreht man sich, wesentlich schneller stürzend, im Kreis nach links. Zieht man rechts, geschieht das Entsprechende andersherum. Er übernimmt die Seile wieder. Mir fehlt vom Surfen auch noch ein wenig die Kraft in den Armen. Und die benötigt man für die Navigation oder zumindest für die Spielchen, die Brandon am Himmel mit mir macht. Er zieht an beiden Seilen, was zu einem Moment der Schwerelosigkeit und somit doch zu einem ähnlich ekelhaften Gefühl wie beim Achterbahnfahren führt. Ich lache und schüttle mich. Brandon zieht beide Seile in die andere Richtung, wodurch wir uns wieder mehr in die Horizontale bewegen und an Fahrt aufnehmen. Das macht ja alles so viel Spaß! Ich entdecke Scott und Dan, weit entfernt am Himmel fliegen. Die beiden sind weiter oben als wir. Wie kommt denn das? Brandon behauptet, dass es daran liegt, dass wir mehr Scheiß machen. Mag sein. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass er 30 Kilo mehr wiegt als Dan. Wir nähern uns einem Baseballfeld. Ich bin fasziniert, wie genau Brandon navigieren kann. Ich meine, wir sind irgendwo drei Kilometer weiter oben gestartet und landen nun zielgenau. Das Landen entspricht tatsächlich nur einem Schritt nach unten. Allerdings ein Schritt, bei dem man leicht das Gleichgewicht verlieren kann. Wir kommen also torkelnd auf dem Feld an und ich stehe auf einmal losgelöst von Brandon auf dem Rasen. So schnell kann man die Karabiner lösen? Schon irgendwie gruselig. Wir geben uns die obligatorischen High five, freuen uns und schauen zu, wie wenige Sekunden später auch Scott und Dan auf dem Acker neben unserem Baseballfeld landen.



kürzere Fassung mit Musik von Refused

längere Fassung mit Musik von Blur & M83

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Ein klein wenig peinlich berührt, verrät mir Brandon, dass wir zum einen ein bisschen zu viel herumgespielt haben und zum anderen da oben ein ganz schöner Wind wehte, der uns vom eigentlichen Ziel, dem Acker, hat abkommen lassen. Oha. Kein Problem. Dass es doch ein kleines Problem ist, merke ich erst, als Brandon mir mitteilt, dass er keinen Plan hat, wie wir den umzäunten Platz wieder verlassen sollen. Jetzt muss ich lachen. Eine Frau kommt auf uns zu. Lustiger- und glücklicherweise macht nämlich eine staunende Schulklasse gerade ein Picknick unter einem Dach neben dem Baseballfeld. Die Lehrerin grinst und lobt uns für diese unerwartete Showeinlage. Sowohl die Schüler als auch sie hätten ganz schön gestaunt, als wir plötzlich auf dem Grün landeten. Dann zückt sie einen Schlüssel und öffnet uns die Tür des Sportplatzes. Vor dem Zaun stehen Scott, Dan und ein weiterer Angestellter der Sprungschule. Nur glückliche Gesichter. Scott und Dans Landung war nicht minder spektakulär. Die beiden wurden von einer Bodenböe erwischt und landeten auf dem Hintern. Doch nicht nur das. Der Windstoß blies den Schirm noch einmal auf und zerrte die beiden einige Meter über das Feld. Der Kollege, der gekommen ist, um uns abzuholen, wollte helfen, griff sich ein Seil des Schirms und wurde ebenfalls über den Boden gezerrt. Auch Scott ist durchweg begeistert vom soeben Erlebten.
»What do I have to do to get licensed?«, frage ich Brandon und Dan.
»You already made the tandem jump …«
Wie jetzt? Ich müsste keinen weiteren Tandemsprung mehr machen? Das ist krass.
Wenige Minuten nachdem wir den Hangar wieder erreichen, in dem sich die Sprungschule befindet, werden uns unsere Videos vorgespielt. Obwohl Scott vor dem Sprung bereits ankündigte, sich weder Fotos noch das Video kaufen zu wollen, wurde sein Erlebnis ebenfalls mit einer Kamera an Dans Handgelenk aufgezeichnet. Während der Vorführung fotografiere ich dreist dreimal den Monitor, damit auch Scott eine kleine Erinnerung an seinen ersten Skydive mit nach Hause nehmen kann.

Nach der Vorführung des Rohmaterials empfiehlt man uns, eine Snackpause im benachbarten Way Point Cafe einzulegen, da der Schnitt meines Videos locker eine halbe Stunde dauern wird. Ja, der Sprung wird tatsächlich von einem Cutter geschnitten, der hinter dem Anmeldetresen einen eigenen Schnittplatz eingerichtet hat. Nicht schlecht und eine kleine Legitimation für den enormen Preis des Videos – wobei ich den Spaß lieber selbst schneiden würde. Daher erkundige ich mich, ob es möglich ist, neben der geschnittenen Fassung ebenso das Rohmaterial zu bekommen. Den zusätzlichen Rohling gibt es für weitere fünf Dollar.
Das Café wird von unzähligen Soldaten belagert. So wie es aussieht, würde es alleine eine dreiviertel Stunde dauern, um sich etwas bestellen zu können. Scott lädt mich daher auf eine Runde frischer Pistazien aus lokalem Anbau ein, die er in seinem Truck spazieren fährt. Ich liebe Pistazien und diese sind der absolute Wahnsinn! Außerdem erinnern sie mich daran, wie ich damals auf Hawaii täglich frische Macadamianüsse aus biologischem Anbau essen konnte. Hm, lecker.
Nachdem wir den Parkplatz zur Genüge mit den Schalen der Pistazien geschmückt haben, schlendern wir wieder in Richtung Flugschule. Ein Mann steht sich am Kopf kratzend vor dem Tor mit dem Zahlenschloss.
»Do you need help?«, frage ich den blonden Mann.
»I forgot that damn code«, erklärt er überflüssigerweise.
»You’re here for skydiving?«, fragen wir ihn.
»Yes, first time.«
Wir öffnen ihm die Tür und erzählen ihm auf den 80 Metern zur Schule, wie großartig es ist.
Mein Video ist fertig, doch seltsamerweise wird meine Kreditkarte nicht akzeptiert. Hä? Was ist denn da los? Ist die etwa überzogen? Ich habe noch 40 Dollar in bar bei mir, muss aber insgesamt 99 Dollar berappen. Ich lege mein Bargeld auf den Tresen und bitte die Grünhaarige mit den Piercings und der Hipsterbrille, zu versuchen, die restlichen 59 Dollar von meiner Kreditkarte zu quetschen. Ein Glück, das funktioniert! Ah, das Rohmaterial! Das wären weitere fünf Dollar, die doch hoffentlich noch auf meiner Habenseite zu finden sind. Fehlanzeige. Meine Kreditkarte ist völlig leer. Wie konnte das denn passieren? Selbst ein Hundeblick kann die Lady nicht erweichen, um mir den blöden Rohling als Geschenk draufzupacken. Ich grüble: In Deutschland ist jetzt Freitagabend, was bedeutet, dass eine Überweisung von meinem Konto auf meine Kreditkarte mindestens bis Montag dauern wird. Verdammte Scheiße. Erst jetzt dämmert mir, dass ich demnach bis Montag keinen Cent mehr zur Verfügung haben werde. Uff. Der blonde Mann vom Eingangstor öffnet neben mir sein Portemonnaie, holt fünf Dollar raus und reicht sie der Grünhaarigen.
»Oh, no! You don’t have to …«, wedle ich mit meinen Armen.
»It’s only five bucks for a great memory«, lächelt der Mann mich an.
Dan kommt auf uns zu und drückt mir seine Telefonnummer in die Hand. Er und Brandon wollen sich später mit uns auf ein Bier treffen. Cool!

»Do you wanna get … EXTREME?«, grölt Scott, als wir wieder im Isuzu sitzen.
Hab’s kapiert: Ihm sind die beiden offenbar zu prollig.
Scott trommelt auf dem Lenkrad und meint, dass wir einen passenden Song brauchen. Er schaut mich fragend und zugleich auffordernd an. Ich hätte da eine Idee und Scott weiß, dass ich meinen iPod dabei habe, den man an sein Autoradio anschließen kann.
»Do you know Refused?«, frage ich meinen neuen besten Freund.
»I love Refused!«
Was für ein Mann!
Ich verbinde den Player mit dem Radio, scrolle zu Refused, »The Shape of Punk to Come«, Lied sechs: »New Noise«. Das Gitarrenintro setzt ein.
»Yes!«, freut sich Scott und dreht die Anlage voll auf. Die Drums setzen ein. Der Song driftet in seinen Drum-and-Bass-Part ab und kurz darauf brüllen Dennis Lyxzén, Scott und ich: »CAN I SCREAM?«
Vergesst Wayne’s World: Scott und ich zelebrieren pure Lebensfreude, während wir mit dem grandios passendstens Lied für diesen Moment über den Highway 101 zurück nach Ventura brettern. Was für ein Tag! – Bislang. Denn es ist gerade einmal ein wenig mehr als die Hälfte des Tages vergangen. Dementsprechend logisch und zugleich auch erfreulich legt Scott wieder los: »This day is so awesome! What shall we do next?«
»What are our options?«
Scott überlegt kurz: »We could go to Ojai and hike through the hills.«
Ich nicke zustimmend.
»There are hot springs.«
»Hell yeah!«
Wir fahren wieder bei Scotts Mama vor, um meine Surfausrüstung zurückzubringen. Sie empfängt uns vor der Garage, wo Scott ihr sofort erzählt, was ich im Wasser geleistet habe. Dies zaubert der Frau einen ehrlichen Ausdruck des Respekts aufs Gesicht. Nicht nur das: »I saw you when I was surfin’«, merkt sie fast schon achtungsvoll an und schaut mir tief in die Augen. Sie surft also tatsächlich ebenfalls. Ich muss wohl wirklich gut gewesen sein, denn Scott – so viel sei verraten – wird die Geschichte meiner ersten Surfstunde in unserer gemeinsamen Zeit vielen, eigentlich jedem erzählen. Wie ich von Scott lerne, sagt und schreibt man in Kalifornien übrigens »surfin’« und nicht »surfing«. Hat was mit kalifornischer Coolness zu tun.
Während Scott das Auto entlädt, pflückt seine Mutter sämtliche Erdbeeren aus ihrem Vorgarten und drückt sie mir feierlich in die Hand: »They are for you.«
Scott ist mit dem Ausladen fertig und erzählt ihr die nächste Geschichte des Tages. Ich habe mich schon gefragt, ob er ihr den Fallschirmsprung verheimlichen möchte. Er hat bislang noch kein Wort darüber verloren.
»Dennis didn’t only come for surfin’. He actually never planned to surf here. We just came back from Camarillo Airport: Dennis booked skydiving.«
»Oh my gosh! That’s so cool!«
»And as I had so much fun with Dennis at the beach … I jumped with him.«
»What? That’s insane!«, lacht Scotts Mom laut auf und drückt ihren Sohn an sich. »How was it?«
Scott berichtet schnell und lässt sie wissen, dass wir nun wandern wollen. Die Mama freut sich noch einmal darüber, dass wir einen grandiosen Tag erleben und ich ihren Sohn letzte Nacht nicht ermordet habe. Zur Verabschiedung drückt sie mich fest an sich. Ich mag diese Frau.
Vor einem Hike muss man sich stärken. Daher steuern wir den Nature’s Grill in der Main Street an.

»I might not be able to pay«, erinnere ich Scott peinlich berührt.
»Come on«, grinst er. »What do you want?«
Ich bestelle Tamales, scheitere abermals mit meiner Kreditkarte und lasse mich von Scott einladen. Ich sage ihm, dass ich ihm nur allzu gerne versprechen würde, ihm das Geld am Montag zurückzuzahlen. Allerdings habe ich keinen Plan, wo ich am Montag sein werde.
»When is your flight home again?«
»Tuesday.«
»What other plans do you have besides scuba diving?«
Hm. Da muss ich selbst erst mal überlegen. Heute Nacht schlafe ich auf der Spectre, dem Tauchboot. Wie und wo es danach weitergeht, weiß ich noch nicht.
»What’s on your bucket list?«, hakt Scott weiter nach.
Ich schmunzele: »Well, I wanted to do some pogo dancing in Portland, but ended up on a hippie rock show.«
»Pogo dancing?«, lacht Scott auf. Darüber hat sich Cari schon regelmäßig lustig gemacht.
»I mean moshpiting … no, uhm, moshing. How do you call that?«
»I like ›pogo dancing‹.«
Ja, Cari gefiel das auch.
»So let’s find a punk rock show this weekend! Shouldn’t be a problem in Ventura.«
Ich schaue ihn verlegen an. Weder habe ich mich bislang getraut zu fragen, ob ich noch einmal die WG-Couch belegen kann, noch hat mich Scott bisher dazu eingeladen. Unausgesprochen steht die Frage nun im Raum.
»You can stay as long as you want to«, unterbricht er wie selbstverständlich das kurze Schweigen.

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Wir fahren zu Scotts Heim, wo die halbe WG einen Live-Podcast von einem Surfwettkampf aus Hawaii verfolgt. Die Jungs geben dabei äußerst lustige Töne von sich, die vom bewunderndem: »Wow!«, bis hin zum schmerzvollen: »Ouch!«, die komplette Palette abdecken.

2013 02 01 15.24.17

Casey entscheidet sich dazu, uns bei unserer Wanderung zu begleiten. Außerdem stößt noch Brad zu uns, mit dessen weißen Truck wir vier in das Hinterland bei Ojai aufbrechen. Brad ist – wie könnte es auch anders sein – ein gewinnender Zuwachs. Zu Beginn wundere ich mich allerdings, was der Mann, der ein wenig wie der leicht pferdegesichtige Jake Gyllenhaal aussieht, für ein seltsames Problem hat. Ständig greift er nach einer Plastikflasche und spuckt hinein. Würg. Obendrein ist die Spucke auch noch braun. Die Lösung heißt Kautabak, was das Ganze wieder lässiger erscheinen lässt. Eklig bleibt es trotzdem. Da Scott von der Mucke auf meinem iPod schwärmt, komme ich mit Brad in ein Gespräch über Musik. Wir liegen auf einer Wellenlänge, weshalb Brad erklärt, dass er eine Kopie der »magic German playlist« benötigt.
Die Fahrt durch die überraschend grünen Hügel ist wirklich schön. Kaum zu glauben, dass die Gegend im Sommer so trocken ist, dass sie alljährlich von mächtigen Waldbränden bedroht ist. Die Straße ist kurvenreich. Casey erzählt, dass er früher öfter mal mit Kumpels auf Longboards die teils ziemlich steile Piste entlanggeheizt ist. Mindestens einer der Freunde musste dabei immer im Wagen vorweg fahren, um die Boardenden durch Hupen vor nahendem Gegenverkehr zu warnen. Derb.
Wir parken Brads GMC in einer Kurve. Ein anderer Truck parkt ebenfalls in der unbetonierten, staubigen Haltebucht. Wir befinden uns irgendwo im Nirgendwo. Abseits der Straße erstrecken sich nur noch Hügel und Wälder.

Kaum haben wir den Pfad betreten, hören wir ein Motorrad auf uns zukommen. Es ist der Besitzer des zweiten Trucks, der über den sehr schmalen und buckligen Pfad donnert. Nachdem er an uns vorbeigeholpert ist, herrscht wieder natürliche Ruhe. Auf der Straße war schon so gut wie kein Verkehr und jetzt, wo wir uns immer tiefer in die Natur schlagen, wird es sogar noch entspannter. Das Grün der Hügel besteht nicht aus hohen Bäumen, sondern vielmehr aus dünnästigen Büschen. Das hilft dann doch nachzuvollziehen, wieso die Brände in den Hügeln sich so rasch und dramatisch ausbreiten können. Scott bleibt bei einem dieser Büsche stehen, pflückt Teile der Pflanze ab und drückt sie mir in die Hand.
»This is Spanish Sage«, erklärt er. Nun kennt er sich auch noch mit Pflanzen aus, staune ich. Ich soll eine Handvoll des Lavendelblättrigen Salbeis mit meinen Handflächen zerreiben, Nase und Mund daran halten und tief einatmen. Laut Scott öffnet dies die Lungen. Er hat recht. Scott zeigt mir noch einen weiteren Strauch, der denselben Effekt, nur mit anderem Aroma vorweist. Nicht schlecht, Scott.
Die Wanderung ist entspannt und die Aussicht schön. Nur einmal störe ich mich an etwas: Von einem Hügel aus können wir einen Schießstand sehen. Soweit kein Problem. Allerdings haben die Cowboys, die darauf am Werke waren, ihren kompletten Dreck zurückgelassen. Eine Schneise bunten Plastikmülls zieht sich durch die Landschaft, was wirklich unnötig ist.

Als die Sonne langsam untergeht, erreichen wir wieder den Truck. Der nächste Stopp sind die hot springs. Wir stellen den Wagen wieder am Straßenrand ab und klettern einen Pfad hinab. Als die Luft immer mehr nach Schwefel riecht, ist klar, dass wir die natürlichen Becken mit dem warmen Wasser erreicht haben. Casey und Brad bleiben direkt da, während Scott mich auffordert, mit ihm zunächst noch ein wenig weiterzuklettern. Wir erreichen ein Feld großer, weißer Steine, die wie massenhaft Eier daliegen. Vielleicht ist es ein ausgetrocknetes Flussbett. Keine Ahnung. Hinter diesem Feld fließt tatsächlich noch ein Flüsschen. Das Wasser ist arschkalt, warnt Scott mich vor. Ich verstehe: Bevor es ins warme Wasser geht, gönnen wir uns die Schocktherapie. Die Sonne ist mittlerweile verschwunden, was das Entkleiden und dabei nichts verlieren etwas anspruchsvoller gestaltet. Obendrein ist es dadurch auch außerhalb des Wassers schon relativ kühl. Ich halte meinen Zeh ins kalte Nass und ziehe ihn sofort wieder raus. Alter! Generös lasse ich Scott den Vortritt, der todesmutig ins Wasser steigt und sich die absolute Dröhnung gibt. Er taucht unter und ich bin froh, dass ich durch das helle Mondlicht und das vollkommen klare Wasser erkennen kann, dass er keinem Herzinfarkt zum Opfer gefallen ist – denn Scott taucht nicht mehr auf. In Embryonalhaltung, mit den Knien nach unten und dem Kopf und Ärschchen in der Höhe, verharrt er eine beachtlich lange Zeit abgetaucht im hüfttiefen Wasser. Als er nach gefühlten fünf Minuten wieder auftaucht, sehe ich Begeisterung in seinem Gesicht: »You have to do that! That was insane! It felt like I could feel life leaving my body. That was like a … like a meditation!«
Ich muss gar nichts: »Ah, it’s okay. I believe you.«
»No, come on! Get inside.«
Er klettert an mir vorbei ins Freie und trocknet sich ab. Naja, wenn ich schon mal hier bin … Außerdem lief an diesem perfekten Tag alles optimal. Ich will Scott also mal glauben und steige wie ein Held ins eisige Wasser – wie ein weinender Held, dessen Hoden gerade auf Erdnussformat schrumpfen. Ich schaffe es nur bis zur Hüfte und will eigentlich wieder raus, als Scott mich noch ein letztes Mal dazu animiert, gefälligst abzutauchen. Okay. Drei, zwo, eins … Buah! Den Kopf bekomme ich zwar nicht nach unten, der Schockeffekt stellt sich dennoch ein und die Sehnsucht nach den Hot Springs wächst ins Unermessliche. Ich klettere schnellstmöglich und dennoch mit großer Vorsicht aus dem scheißkalten Nass, schnappe mir meine Sachen und stolpere mit Scott abenteuerlich über die im mittlerweile Stockdunkel liegenden weißen Felsbrocken.

Die heißen Quellen bestehen aus drei Becken, die alle um die 40 °C messen. Hat man sich einmal an den Schwefelgeruch gewöhnt, ist der Ort wirklich wunderbar.

Am vollen Sternenhimmel und der Ruhe kann man erkennen, dass man weit genug von der Zivilisation entfernt ist. Wir sitzen entspannt auf dem sandigen Boden des größten Beckens, als eine dunkle Gestalt ins Becken steigt und sich hinter Scott und mich setzt. Alles, was ich von dem Fremden erkenne, ist, dass er lange Haare hat. Er grüßt uns freundlich. Kaum sitzt er, beginnt er zu reden. Nein er schwafelt vielmehr. Es ist der übliche Hippietalk über die Einheit von Mensch und Natur, unserer Herausforderung, ebenjene zu schützen und so weiter und so fort. Scott dreht sich zu ihm um und fragt plötzlich: »What do they call you?«
»What do they call you?«, frage ich mich. Haha, Scott! Du Freak. Ich beiße mir auf die Lippen, um nicht loszulachen, als der Hippie reagiert und alles noch viel schlimmer macht. Vollkommen ernst antwortet er: »They call me … Treesiah.«
Ich bilde mir trotz der Dunkelheit ein, auch bei Brad und Casey einen Kampf gegen das Losbrüllen ausmachen zu können, wohingegen Scott dem Mann schön artig: »Nice to meet you«, entgegnet. Damit ist dieser Moment glücklicherweise überstanden und der Hippie mit dem vermutlich selbst erdachten Hippienamen setzt seinen Monolog fort. Ich lehne mich zurück, genieße den Blick auf die Sterne und bemerke auf einmal, dass ich Treesiah immer interessierter zuhöre. Ja, unvermutet ist mir das, was er da von sich gibt, vertraut. Er redet vom Leben. Davon, dass das Leben eine Reise ist. Eine Reise, der man sich nicht verschließen soll. Denn nur wenn man die Reise zu schätzen und zu erleben weiß, begegnen einem auch die Menschen und Ereignisse, die einen glücklich machen, die einen weiterbringen.
»Serendipity«, fügt er abschließend noch wie eine Zauberformel an, woraufhin ich mich umdrehe und ihm vielleicht etwas zu schwungvoll und euphorisch zustimme. Zumindest bemerke ich, dass ich die anderen drei mit meinem: »Yes, man! You’re so damn right!«, schon fast ein wenig erschrecke. Mir ist das in dem Moment egal. Treesiah hat es doch tatsächlich fertiggebracht, ein Resümee meiner Reise, fast schon ein Schlusswort zu formulieren. Ich wünschte, ich hätte mir den kompletten Text und nicht nur einen zusammengefassten Bruchteil davon merken können. Der Mann hat immerhin gut und gerne fünf Minuten über mein neues Lieblingswort, über Serendipity, referiert. Für mich ist das der perfekte Abschluss des perfekten Tages. Wenig später erhebt sich Treesiah, verabschiedet sich und verschwindet auf nimmer wiedersehen in die Dunkelheit der Nacht. Magische Hippiekacke! Ich bin begeistert.
Als ich später Scott frage, ob er sich noch daran erinnern kann, was genau Treesiah von sich gegeben hat, wird mir klar, dass ich der Einzige im Pool war, den der Vortrag ab einem bestimmten Zeitpunkt gefesselt hat: »He said something about all energy being part of the same and time not existing and being brothers and sisters … The regular high hippie shit.«
Casey funkt dazwischen: »And why the fuck did you … What did you say to him?«
Scott prustet los: »I don’t know why I asked him like that. It just came out the way I said it.«
»What do they call you?«, äfft Brad Scott nach. Endlich können wir uns alle lauthals über diesen Moment bepissen. What do they call you …?

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Wieder in Ventura besucht Lauren die WG, die aus dem Staunen über unseren Tag nicht mehr herauskommt. Besonders das Video vom Fallschirmsprung erfreut sie. Höchst amüsiert bescheinigt sie mir, der erste Mensch zu sein, der 18 verschiedene Emotionen binnen einer Sekunde in sein Gesicht zaubern kann. Besagte Sekunde ist der Moment des Absprungs. Ja, da sehe ich wirklich ein wenig bescheuert aus. Scott und ich können es ebenfalls kaum glauben, wie genial dieser Tag war. Zu allem Überfluss fällt mir noch auf, dass ich heute meinen nie wirklich zelebrierten »veganen Geburtstag« habe. 13 Jahre vegan, Baby! Scott ist davon ehrlich fasziniert und gratuliert mir herzlich: »Happy Vegan Day!«
Zur Feier dieses grandiosen Tages, verkündet er, möchte er nun vegan für uns kochen. Hört, hört! Das gelingt ihm auch sehr gut.

Steven, der einzige Mitbewohner, der momentan mit uns im Haus ist, und einen auf ewig mürrischen und harten Metalfreak macht, holt seinen Teller nur ab und verschwindet gleich wieder. Später komme ich noch ein wenig mit ihm ins Gespräch. Da Scott ihm erzählt hat, dass ich auch ein Metalfreak sei, merke ich, dass er sehr gerne eine Bindung zu mir aufbauen möchte. Allerdings enttäusche ich ihn gleich zu Beginn unserer staksigen Unterhaltung, als ich ihm mitteile, dass ich aus der Punk- und Hardcore-Ecke und weniger aus der Metal-Szene komme. Wir wollen beide trotzdem nicht aufgeben. Der Funken springt dennoch nicht über.
Casey stößt später wieder zu uns. Ich habe Scott zuvor erzählt, dass Casey in meinen Augen große Ähnlichkeit mit dem jungen Henry Rollins hat, was er ihm natürlich direkt mal unter die Nase reiben muss. Super.
»And you, Sir«, räche ich mich, »you look like Miroslav Klose.«
»Meewowav … What?«
»Miroslav Klose. Another German legend …«
Als ich von der Toilette wiederkomme, sitzt Scott seltsam dreinblickend vor meinem Notebook, während Lauren jauchzend fast vom Stuhl kippt. Ich frage die beiden, was los ist, als Scott mir erklärt, dass er versucht, Miro Kloses Blick nachzuahmen, um von Lauren zu erfahren, ob er tatsächlich so aussieht. Bescheuerterweise hat der Fußballgott auf dem ersten Foto der Google-Bildersuche einen, nennen wir es mal, leicht verkniffenen Blick, der Scotts Augen vor urkomische Herausforderungen stellt. Nichtsdestotrotz stimmen mir die beiden zu: Es gibt eine gewisse Ähnlichkeit.

Miro Klose
© Michael Kranewitter

Gegen 23 Uhr beginnt Scott mir ein Lunchpaket zu schnüren. Der Kerl ist zu süß. Ich bekomme diese mütterliche Umsorgung, da er, genauso wie ich, davon ausgeht, dass es auf der Spectre morgen kein veganes Essen geben wird, was an einem Tag mit drei Tauchgängen hart werden dürfte. Also packt er mir Mandarinen, Avocados, Pistazien, Mandeln, Studentenfutter, asiatisches Gebäck und Kokoscracker in eine verschließbare Plastiktüte.

2013 02 01 20.45.06

Anschließend fährt mich das Pärchen zur Spectre, die im Ventura Harbor liegt, wünscht mir Spaß und verabschiedet mich bis morgen.

Auf dem Boot ist nicht allzu viel los. Ich melde mich kurz an, woraufhin ich mir eine Koje aussuchen darf. Während ich mich bettfertig mache, denke ich mir, dass ich von heute an, ohne rot zu werden, behaupten kann, einen perfekten Tag erlebt zu haben: der 1. Februar 2013. Kaum liege ich, schlafe ich auch schon selig und glücklich ein …

Copyright
Das Foto von Miroslav Klose ist unter der Creative-Commons-Lizenz CC-BY-SA-3.0 geschützt: © Michael Kranewitter via Wikimedia Commons

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