Tag 86: A Day in the Life of Scott

Serendipity – Teil 2

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Sonntag, 3. Februar 2013
Ventura

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Da die Wellen nach wie vor so genial sein dürften, kündigte Scott letzte Nacht an, dass er früh am Morgen surfen gehen möchte. So beginnt der neue Tag bereits wieder um sechs Uhr – nachdem der vorige erst um drei Uhr endete. Als ich Scott gestern Nacht fragte, ob ich mitmachen kann, verneinte er: »You may be Germany’s best surfer, but those waves are too big for a beginner. It’s too dangerous.«
Dass ich dennoch auf meinen Schlaf verzichte, um ihn beim Surfen zu beobachten und zu filmen, macht ihn fröhlich und ringt ihm einen gewissen Respekt ab. Als er mich aufweckt, wird mir klar, weshalb ich auch vollkommen zu Recht allen Respekt verdiene. Boah, bin ich noch müde. Total bekloppt. Da feiert und säuft man ordentlich und steht dann drei Stunden später wieder auf, um ein paar Wellen zu surfen. Das ist wahre Leidenschaft.
Mit Scotts wesentlich besserem und weniger kaputtem älteren Wagen und Refused im laut aufgedrehten Radio geht’s ans Meer, zwölf Kilometer außerhalb von Ventura. Ich glaube, er hat sich die »neue« Schrottschüssel gekauft, weil da das eine oder andere Brett besser hineinpasst oder die Versicherung billiger ist. Eine andere Erklärung für den Kauf des Isuzu finde ich zumindest nicht.
Je näher wir dem Surfspot kommen, desto freudig aufgeregter wird Scott. Regelmäßig schaut er aus dem Fahrerfenster, um die Wellen abzuchecken. Dann geht immer mal wieder sein Daumen nach oben: »Looks good! Great!«
Scott schaltet zwischendurch die Musik aus, um die Wettervorhersage im Radio zu hören. In Kalifornien wird nämlich auch viel über den Wind und somit auch über Wellen berichtet. Wichtige Informationen für Surffreaks wie Scott.
Je näher wir dem Spot mit dem unkreativen Namen »Park Number Three« kommen, desto höher wird das Aufkommen von am Rand geparkten Wagen. Es sind primär Camper und Pick-ups von Fischern und Surfern. Der Surfspot selbst ist ein Parkplatz direkt am Wasser mit einem noch geschlossenen Häuschen, an dem man sich später am Tag mit Nahrung versorgen kann. Der Ort ist ein Rastplatz.
Bevor Scott seinen Neoprenanzug anzieht, schauen wir uns die Wellen an. Scott möchte sehen, ob sie es auch wert sind, geritten zu werden. Sie sind es. Wir sind nicht die Einzigen, die auf dem Felsdeich stehen und die Wellen inspizieren; ein leicht absurd wirkendes Spektakel, morgens bei schönstem Sonnenaufgang um kurz nach halb sieben.
Scott erzählt, dass er eine Zeit lang genau hier lebte. Ich denke zuerst, dass dies eine Metapher dafür ist, dass er so oft zum Surfen herkommt und er diesen Spot als sein zweites Wohnzimmer betrachtet. Tatsächlich war es jedoch so, dass sich seine Eltern noch keine sichere Existenz aufgebaut hatten, als sie nach Ventura zogen und sich demnach zunächst als Imbissbudenbetreiber an diesem Platz verdingten. Es war eine gute Zeit, nickt Scott. Außerdem hatte er somit optimale Voraussetzungen, um das Surfen zu lernen und schließlich – laut Lauren und Kevin – zum besten Surfer Venturas zu werden. Ich weiß nicht, ob er sich überhaupt darüber im Klaren ist, diesen Status zu haben. Spräche ich ihn darauf an, würde er sicherlich nur verlegen abwinken, charmant lächeln und es bescheiden bestreiten.
Als Scott aufs offene Meer hinauspaddelt, steigt die Sonne über das hügelige Hinterland und lässt das Wasser golden aufleuchten. Pelikane fliegen, meist in kleineren Gruppen, direkt über den Wellenkämmen. Es sieht so aus, als würden selbst die Vögel mit den lustigen Schnäbeln auf ihre Weise mit den Wogen spielen. Ich filme Scott und bekomme ungefragt einen Zigarillo mit Vanillegeschmack von anderen Zuschauern angeboten, die neben mir stehen, mit denen ich zuvor jedoch noch kein Wort gewechselt habe. Sehr nett.
Die Wellen sehen für mich eigentlich gar nicht mal sonderlich Respekt einflößend aus. Als wir vor wenigen Minuten das Meer beobachtet hatten, sah es noch fast nach einem Ententeich aus. Da ich ein guter Schwimmer bin, wäre ich selbst als Anfänger angstfrei hinausgepaddelt. Als ich Scott und die anderen Surfer wenig später jedoch die Wellen reiten sehe, wird mir klar, wie hoch die Wogen dann doch noch geworden sind. Das ist durchaus erstaunlich und zeugt davon, wie sehr Scott den Pazifik lesen kann. Auch die Distanz zum Ufer wird erst dadurch wirklich deutlich, wenn man einen aufrecht stehenden Menschen als Maßstab zur Verfügung hat. Naja, okay. So legendär meine Surfskills auch schon sein mögen: Diese Wellen sind dann tatsächlich doch nichts für Anfänger wie mich. Darüber hinaus brandet das Wasser nicht auf einen feinen Sandstrand, sondern in eine gefährliche Ansammlung mittelgroßer Felsbrocken. Wenn man dort unkontrolliert hineinrauscht, kann es eigentlich nur schmerzhaft und mit Knochenbrüchen enden. Die Wellen werden darüber hinaus mit der Zeit immer höher und für sieben Uhr ist im Wasser bereits erstaunlich viel los. Ich staune ein ums andere Mal, dass die Surfer sich nicht gegenseitig über den Haufen fahren.
Plötzlich wird das Wasser wieder ruhiger. Ich wundere mich nur kurz, da mir einfällt, was ich am Vortag von Lauren gelernt habe. Sie sprach gestern von einem »set of eight waves«, was ich nicht verstand und mir daher erklären ließ: Wellen kommen immer in Intervallen, die der Surfer »Set« nennt. Gestern Abend sah dies so aus, dass nacheinander acht Wellen mit halbwegs regelmäßigem Abstand zueinander aufs Land zugerollt kamen. Nach der achten Welle blieb das Wasser für eine gewisse Zeit ruhig und ließ schließlich das nächste Set, erneut acht Wellen, sich am Ufer brechen. Verrückte Natur. Als hier und jetzt die Wellen abflauen, reagieren die Surfer, indem sie sich auf ihre Bretter setzen, vermutlich leise die Sekunden zählen und gebannt auf das nächste Set warten. Die erste Welle eines Sets sollte man übrigens nicht unbedingt reiten. Die nachfolgenden Wogen sind in der Regel besser. Außerdem brechen nicht so viele Wellen über einen ein, falls einen gleich die erste eines Sets umhauen sollte.
Nach 40 Minuten kommt Scott wieder an Land gepaddelt. Er verlässt das Wasser mit einem Surfer, der zwischen 45 und 55 Jahre alt sein muss. Er stellt ihn mir als seinen Onkel vor. Ob es in dieser Familie wohl auch jemanden gibt, der nicht surft? Ich wage es zu bezweifeln.

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Gegen halb zehn sitzen Scott und ich im Garten der Surfer-WG und frühstücken. Das Gartenmobiliar würde vermutlich auch dem Hutmacher aus »Alice im Wunderland« gefallen. Der rostige Tisch ist zwar keine lange Tafel, dafür aber – wie auch die Stühle – eigentlich viel zu hoch und lässt uns wie kleine Kinder am Erwachsenentisch aussehen. Auf Barhockerniveau und bei schönstem Sonnenschein genießen wir die nahrhafte Mahlzeit, die aus einem Bagel, Oatmeal, einem Gemüseschnitzel, einer frischen Avocado und Kombucha besteht. Welcome to Scott’s paradise.

Nach dem Frühstück treffen wir im Garten auf Steven, der Scott von seinem eitrigen Pickel an äußerst unangenehmer Stelle erzählt. Ich kann mir genauso wenig wie Scott ein Grinsen verkneifen, wohingegen Steven unbeirrt seinen chronisch mies gelaunten oder einfach nur ultracoolen Gesichtsausdruck beibehält, und auch die sich mir im Stillen gestellte Frage, ob sich der Pickel nun am Arsch oder auf seinem Schwanz befindet, explizit und schamlos zu beantworten versteht. Autsch. Steven textet Scott damit zu, dass ihm der Pickel ernsthaft zu schaffen macht und er nicht weiß, ob er sich in ärztliche Behandlung begeben, den Pickel einfach aufdrücken oder – so weit möglich – schlicht ignorierend abheilen lassen sollte. Scott greift brüderlich nach Stevens Schulter, bedankt sich ironisch für seine Offenheit und rät ihm zur Geduld. Steven reagiert nahezu ergriffen, erwidert die freundschaftliche Geste und sagt: »Thanks for listening, man. You’re a real friend.«
Dann schnieft er kurz und schlurft scheinbar leidend, doch ob dieses Geheimnisses erleichtert, zurück ins Haus.
»Nice workout, Steve! Good color. You’re looking good, man!«, ruft ihm Scott noch aufbauend hinterher, was Steven mit einem: »Thanks, dude!«, samt stolzer Anspannung der tatsächlich gut trainierten Bauchmuskulatur beantwortet.
Scott möchte mir zeigen, dass es außer dem Hinterland, dem Hafen, der Strandpromenade und der Main Street noch mehr Sehenswertes in Ventura gibt: den Grant Park zum Beispiel. Wir parken den Wagen und schlagen einen der vielen Pfade ein. Der Grant Park ist keine flache, grüne Wiese, sondern ein trockener Hügel, der Ventura im Norden begrenzt und zum Wandern einlädt. Scott führt mich zum Father Serra Cross, einem schlichten Kreuz, welches zu Ehren des Missions- und folglich Stadtgründers Junípero Serra errichtet wurde. Rund um das Kreuz hat man eine kleine Grünfläche angelegt. Das Highlight ist eindeutig die Aussicht auf die Stadt und den Ozean. Die Luftfeuchtigkeit, die die Wellen mitbringen, zieht sich wie ein nebliger Schleier über die Stadt und in der Ferne ragt Santa Cruz Island aus dem Meer. Wir genießen für einige Minuten die Aussicht und die Sonne, treffen auf eine Echse und spazieren wieder zurück zum Auto. Ein netter kleiner Ausflug.

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Wieder zurück in der Hemlock Street zieht es Scott zu seinen Boards im Schuppen hinter dem Haus. Es ist wieder Zeit zum Surfen! Die Wellen konnten wir sogar vom Grant Park aus sehen.

Casey und Scott wollen sich das Meer aus der Nähe ansehen. Nachdem die Wogen gestern Abend so genial waren, vermuten sie, dass sie jetzt wenigstens genauso hoch sein dürften – vielleicht sogar noch höher. Scott hofft gar auf den »surf of the winter«. Damit es schnell geht, wollen die Jungs mit dem Fahrrad ans Meer düsen. Da ich mitkommen soll, organisiert Scott mir ebenfalls einen Drahtesel. Mein Fahrrad sieht äußerst lustig aus: Es ist klein, rostfarben, überall rund, hat orange Reifen und sowohl lila Lenkergriffe als auch eine lila Fahrradkette. Scotts Bike ist mit seinen dünnen Rädern an Uncoolness nicht zu übertreffen und Casey kommt mit einem baugleichen Rad wie ich daher, allerdings in Schwarz und mit einem weit gebogenem Beach-Cruiser-Lenker. I win.
Steven, der nicht weiß, dass ich meine Reise dokumentiere und daher nicht versteht, weshalb ich ständig Fotos mache – im Moment von meinem Bike –, verarscht mich derweil: »Hey, take a picture of me, too!«
Er stellt sich mit nacktem Oberkörper auf einer Stufe vor mir auf … und ich fotografiere ihn.

Ich muss wohl nicht erklären, dass es mit zwei Surfern, wovon einer gerne auch mal mit einem Longboard durch die Serpentinen des Hinterlandes düst, schnell und riskant den Berg zum Strand hinunter geht. Um Scott und Casey mache ich mir keine Sorgen, doch bin ich wegen meiner eigenen Knochen froh, als wir kurz darauf heil auf der den Highway 101 überspannenden Fußgängerbrücke ankommen. Ähm, nein, ich habe das Rennen nicht gewonnen. Scott und Casey schauen sich fachmännisch die Wellen an und beratschlagen sich. Ich verstehe wegen des Freeways kein Wort, gehe aber mal davon aus, dass sie überlegen, mit welchen Boards sie die Wellen reiten wollen. Dass sie es wert sind, darauf zu surfen, sehe ich auch als Anfänger, denn die Wogen, die durch die Pfähle des Ventura Pier preschen, sind locker drei bis vier Meter hoch.

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Wieder in der WG schlüpft Scott bis zur Hüfte in seinen Neoprenanzug und schnappt sich ein recht kurzes Brett mit orangefarbenem Rand und Unterseite. Steven betritt den Raum. Ich vermute, dass er gerade Eiswürfel gepinkelt hat. Er setzt sich mit Basecap und dunkler Sonnenbrille hinters Schlagzeug und beginnt darauf herumzuhämmern. Mein Talent zum Surfen stufe ich höher ein als seine musikalischen Fähigkeiten. Unter unrhythmischem Geballer verlassen Scott und ich das Haus. Scott schafft es dabei erstaunlicherweise sogar, halbwegs passend zu Stevens Geknüppel zu tanzen. Moment mal, bin nicht eigentlich ich der Punk von uns dreien?

Ich packe wieder meine Kamera aus. Nachdem ich die letzten drei Monate zwar massenhaft Fotos, aber viel zu wenig Videos aufgenommen habe, möchte ich dies am heutigen Tage etwas ausgleichen. Mein ehrgeiziges Vorhaben, eine kleine Doku über einen Tag in Scotts Leben zu drehen, wird zwar aufgrund mangelnder Technik und zu viel Kamerabewegung sicherlich kein Meisterwerk, Spaß macht es dank Scott dennoch.
»What are you going to do?«, frage ich ihn bei laufender Kamera.
»We’re gonna get extreme
»EXTREME?«, brülle ich zurück. Ja, die Jungs vom Skydiven haben uns einen Running Gag beschert.
»Extreme! We jump out of airplanes, we go surfing … We do everything to the max
»Sure you wanna do that? Sure that’s a good idea?«, folge ich weiter der Fallschirmlehrerdevise.
»Yeah, it is!«
Scott lächelt in die Kamera, legt einen Schritt zu und beginnt zu lachen. Wenig später kommen wir an einem Orangenbaum vorbei. Scott pflückt sich im Vorbeigehen eine Frucht und spaziert weiter. California Dream. Wenig später setze ich zum nächsten Interview an: »Where are you going to surf?«
»We’re going to surf California Street in sunny California.«
Er berichtet, dass eine drei bis vier Meter hohe Welle auf den Strand zurollt und irgendetwas mit: »285 degrees west.«
Ich vermute, dass sich dies auf den Wind bezieht. Er fährt damit fort, dass irgendetwas »roping« genannt wird. Da ich noch von den »285 degrees west« irritiert bin, verpasse ich es, ihn zu fragen, was zum Geier das nun wieder zu bedeuten hat.
»Let’s go see if we can make it happen and try to go through those vibes blowin’ throughout Mother Ocean«, beendet er philosophisch seinen Exkurs in die Surfersprache. Und selbstverständlich grinst er wieder.
»Nice«, kommentiere ich weniger tiefgründig, was ihn kurz auflachen lässt. Als er denkt, dass ich die Kamera ausgeschaltet habe, erklärt er mir, dass es hart ist, vor der Kamera natürlich zu bleiben: »It’s like this faked person, you know? Like some stranger you’re talking to.«
Ich glaube, dass es unmöglich ist, diesen Kerl nicht zu mögen. Ein weiterer Punkt, der in meinen Augen Scotts Bescheidenheit widerspiegelt, ist sein Gang. Mein neuer Freund ist muskulös, sieht aus wie Miro Kloses hübscherer Bruder und zählt als Surfer sicherlich zur coolen Gang Venturas. Dennoch tapst er wie ein gedankenversunkener Achtjähriger, leicht nach vorne gebeugt und das Surfbrett unter den Arm geklemmt, mit hängenden Schultern umher. Dabei sieht er interessiert um sich – meist natürlich in Richtung Meer – und macht sich selbst so überhaupt nicht zum Mittelpunkt des Geschehens. Ich bin mir absolut sicher, dass er keinen Gedanken daran verschwendet, was für einen coolen Eindruck er am Strand hinterlassen könnte. Nein, Scott ist lediglich von der Vorfreude auf die nächste Welle getrieben. Passend dazu setzt er auch – kaum haben wir Sand unter unseren Füßen – zu einem Sprint an und rennt ans westliche Ende des Strandes. Außer Scott sehe ich keinen einzigen weiteren Surfer rennen. Im Wasser paddelt er auf seinem Brett den Wellen entgegen und reitet auf einer von ihnen spektakulär bis zum Pier. Wow, das sind mal richtig hohe Wellen! Dummerweise ist es nicht gerade einfach, Scott zu filmen. Zum einen muss ich viel zu viel zoomen, wodurch das Bild wackelt, und zum anderen strahlt mir die Sonne so blöd aufs Display, dass ich quasi blind draufhalten muss. Oftmals filme ich zudem Surfer, die nicht Scott sind, was ich oftmals allerdings erst erkenne, wenn sie wieder am Strand ankommen. Wenn Scott angespült kommt, erkenne ich ihn indes sofort. Das liegt weniger an der leuchtenden Farbe seines Boards als vielmehr daran, dass er, sobald er angekommen ist, sich sein Brett unter den Arm klemmt und wieder losrennt.
Vorgestern habe ich Scott eine Freude gemacht, indem er sich durch mich an seine ersten Surfversuche erinnert fühlte. Und heute freue ich mich nicht weniger darüber, in ihm den Genuss am Leben beobachten zu können. Ventura vermag als Stadt nicht wirklich zu überzeugen, der Lifestyle, den die Menschen pflegen, die ich hier kennenlernen durfte, erscheint mir hingegen äußerst gesund zu sein – denn sie sind glücklich. Also schreibe ich Cari, dass wir von mir aus auch gemeinsam nach Ventura ziehen können: »I met so cool people here, the nature is great, skydiving available and they think it’s funny that I call moshpiting ›pogo dancing‹. Good vibes here.«
Am Horizont taucht das historische Segelschiff auf, das ich gestern bereits im Hafen gesehen habe. Oh, es sind sogar zwei. Eine epische Seeschlacht bleibt aus.
Als Scott wieder aus dem Wasser kommt, unterhält er sich mit den Rettungsschwimmern, die gleich mit mehreren Wagen parat stehen und eigentlich die Leute wegen der hohen Wellen aus dem Wasser raushalten wollen. Scott scheint seinen Status als Topsurfer aber auch bei den Damen und Herren von »Baywatch« zu haben, weswegen sie lediglich freundlich plauschen und erst gar nicht auf die Idee kommen, Scott davon abzuhalten, wieder loszusprinten … was er im Anschluss an das Gespräch selbstredend wieder macht. Bloß keine Welle verpassen! Als er sich einmal für wenige Minuten eine Auszeit gönnt und sich zu mir setzt, strahlt er verträumt aufs Meer hinaus, stets die Wellen beobachtend. Ja, dieser Mann ist verliebt.
Ich frage Scott, was das für seltsame Surfer sind, die mit einem Paddel bewaffnet auf ihren Brettern stehen: »They are no surfers. Everybody makes fun of them.«
Das überrascht mich nicht, denn die Paddler sehen wahrhaftig reichlich uncool aus. Vielleicht bereiten sie ja auch nur ihre Bewerbung zum Gondoliere im Venetian in Las Vegas vor.
Nachdem sich Scott ausgetobt hat, möchte ich bei laufender Kamera von ihm wissen, ob dies nun wie erhofft das beste Surfen dieses Winters war.
»No, last night was«, antwortet er und sieht dabei dennoch unglaublich glücklich aus, »but that was the surf of the moment. And it was a very good moment.«

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Kurz nach unserer Rückkehr in die WG kreuzt Lauren auf, was bedeutet, dass wir uns zusammensetzen und plaudern. Scott erzählt vom Surfen und dass ich ihn heute schon den ganzen Tag über filme, was er »inspirierend« findet. Ich hoffe derweil leise, dass die Aufnahmen überhaupt verwertbar sind und wechsle daher schnell das Thema indem ich mich erkundige, wie hoch eigentlich die Haigefahr beim Surfen ist. Scott meint, dass er beim Surfen noch nie mit einem Hai in Kontakt gekommen ist und das Thema von den Medien überspitzt und viel zu panisch dargestellt wird. Lauren erzählt daraufhin, dass sie einmal dachte, dass sich ein Hai ihr und ihrem Board nähert, als sie gerade darauf saß. Panisch versuchte sie zu entkommen, um dann festzustellen, dass die Flosse zu einem Delfin gehörte. Krass. Scott und ich regen uns über Trolleys und den Krach, den diese blöden Rollkoffer verursachen auf, reden von diesem und jenem und schließlich von Football. Heute ist nämlich Super Bowl Sunday und ich ahne bereits, dass weder Scott noch Lauren irgendein Interesse daran haben. Ich interessiere mich zwar auch nicht dafür, möchte diesen Feiertag aber dennoch nicht komplett verpassen. Schließlich wird darüber auch in Deutschland immer so berichtet, als sei es neben dem 4. Juli der wichtigste Tag im amerikanischen Kalender. Meine Vermutung bewahrheitet sich. Glücklicherweise versteht Scott, worauf ich hinaus will und fragt Casey, ob ich mit ihm kommen kann, um das Spiel zu sehen.
»Sure«, nickt Casey, »but you have to confess!«
Hä? Ich muss gestehen? Was denn?
»Confess that you didn’t surf for the first time the day before yesterday.«
Ach, das geht runter wie Öl.
Caseys Kumpel wohnt in der Pittsfield Lane, einem engen Sträßchen, das vom Pierpoint Boulevard in Richtung Meer abgeht. Es sind nur wenige Meter bis zum Strand, wo wir uns wenige Minuten vor dem Anpfiff noch kurz den Sonnenuntergang ansehen. Der Kollege wohnt also in einem zweifellos gut gelegenen Viertel der Stadt.

Die Jungs – wir sind zu viert – feiern keine wilde Super-Bowl-Party, sondern schauen sich das Spiel der San Francisco 49ers gegen die Baltimore Ravens ganz entspannt im Wohnzimmer an. Kaum sitze ich, merke ich, dass ich unfassbar müde bin. Da rächt sich wohl die kurze Nacht. Ich kenne die meisten Regeln zwar nicht, steige aber dennoch relativ schnell dahinter, wie dieses Spiel ungefähr funktioniert. Zu Beginn des dritten Viertels erhöhen die Außenseiter aus Baltimore auf 28:6. Nachdem ich bis hierhin schon hart gegen die Müdigkeit angekämpft habe, denkt sich mein Körper nun offensichtlich: »Das Spiel ist gelaufen und ich mache auch nicht länger mit.«
Also schlafe ich ein. In den Augen so manch eines Amerikaners sicherlich Blasphemie. Als ich wieder halbwegs wach werde, bemerke ich am Spielstand, dass ich rein gar nichts verpasst habe. Es steht immer noch 28:6. Den Jungs ist mein kurzes Nickerchen offensichtlich aufgefallen: »Look who’s awake again!«
»Yeah, sorry. The night was short. Feels like I really slept, but I obviously didn’t miss anything.«
»Yes, you did«, widersprechen mir die Jungs.
»But it’s still 28:6.«
»There was a blackout … for half an hour.«
Bitte, was? Die Jungs erklären mir, dass ich soeben einen historischen Moment verpennt habe. Für 34 Minuten sind im Stadion von New Orleans die Lichter ausgegangen. Das Spiel musste unterbrochen werden, was es in nunmehr 47 Jahren Super Bowl noch nie gegeben hat. Ich überlege kurz, was Günther Jauch und Marcel Reif wohl bei einem Stromausfall eingefallen wäre, schaffe es aber nicht, eine schmissige Verbindung zwischen dem Super-Bowl-Blackout und meinem eigenen aus meinen müden Hirnwindungen zu pressen. Vermutlich auch besser so. Stattdessen wird darüber diskutiert, ob dies tatsächlich ein Unfall war oder ob da nicht einer im Auftrag der 49ers den Stecker gezogen hat. Schließlich wurden die bis zum Stromausfall ganz schön vermöbelt.
Scott ruft an und fragt, ob Lauren und er mich abholen sollen. Sie wollen mit mir in eine Bar gehen und sich mit einer Freundin von Lauren und Scotts Bruder Patrick nun doch ebenfalls den restlichen Super Bowl angucken. Wenig später holen sie mich ab und bringen mich nur zwei Straßen weiter in den Social Tap. Laurens Freundin heißt Dannica und Scotts kleiner Bruder hat einen Schnurrbart. Ich mag beide.
Der Laden ist natürlich voll. Allerdings nicht zu voll, sodass wir problemlos noch einen freien Tisch ergattern können. Wenig verwunderlich hält hier fast jeder zur Mannschaft aus San Francisco. Umso erstaunlicher ist hingegen, dass die Fans wieder Hoffnung haben: Es steht nur noch 28:26. Dem Stromausfall sei Dank? Am Ende gewinnt die Mannschaft von der Ostküste knapp mit 34:31. Mein erster Super Bowl, live in Amerika. Ein Erlebnis, das ich wohl nicht ewig mit mir herumtragen werde. Auch egal. Dafür sind wir mittlerweile alle ordentlich knülle. Irgendwer – ich glaube Dannica – hat nicht so fleißig mitgetrunken und kann noch fahren. Laurens Auto lassen wir vernünftigerweise stehen. Während wir auf irgendwen auf dem Parkplatz warten, schaut Lauren offenbar die falsche Frau an. Zumindest wird sie plötzlich von einer in Rage geratenen Assitussi aus dem parkenden Auto neben uns angebrüllt: »What’s up, bitch?«
Wenn ich mich nicht irre, antwortet Lauren: »Uhm, fuck you?«, während Scott, Patrick und ich uns kaputtlachen.

Wir nehmen noch eine weitere Freundin mit und fahren zu Dannicas Wohnung. Party on. Während ich dies so schreibe, bezweifle ich langsam, dass wir nur mit einem Auto gefahren sind. War da noch ein Taxi im Spiel? Wir werden es niemals erfahren.
Dannica ist alleinerziehende Mutter eines drei- bis fünfjährigen Sohnes, der es offensichtlich ein wenig gruselig findet, dass die Wohnung plötzlich voller Leute ist. Ich finde es wiederum unheimlich, dass die mir namentlich unbekannte und erst beim Aufbruch hinzugekommene Freundin tatsächlich versucht, mich aufzureißen. Mich, der ich kaum noch geradeaus laufen kann und schon wieder unerbittlich gegen die Müdigkeit ankämpfen muss. Scott schnappt sich meine Kamera und fotografiert drauf los. Sein liebstes Motiv ist Laurens Hintern, wie ich einige Tage später beim Kopieren der Fotos auf meinen Rechner feststelle. Dannica überlegt den halben Abend über, woher sie mich kennt. Dann endlich fällt es ihr wieder ein: Ich sehe aus wie der Sänger von Iron and Wine. Ich sollte mich mal wieder rasieren. Die Frau mit den großen Brüsten und den Spider-Man-Stiefeln von Dannicas Sohn – also die, die mir an die Wäsche will – schreibt mir irgendwelche kryptischen Buchstaben auf ein Blatt Papier. Keine Ahnung, was das soll. Als ich irgendwann »LAX« entziffern kann, verstehe ich immerhin, dass es um Flughäfen geht. Damit hört’s aber auch schon wieder auf. In die Stiefel des Drei- bis Fünfjährigen passt die 40- bis 45-jährige Lady übrigens nicht rein. Sie trägt sie nur die ganze Zeit über spazieren. Ich mache schließlich den verhängnisvollen Fehler und setze mich aufs Sofa. Und schwupp, schnarche ich. Wie ich später per »Foto-Lovestory« in Erfahrung bringen kann, setzt sich meine neue Flamme neben mich und kopiert meinen lässig sitzenden Schlafstil, bei dem ich beide Arme elegant hinter meinem Kopf verschränke, die Beine übereinanderschlage und seltsamerweise auf manchen Bildern grinse. Nach und nach verändert sie allerdings ihre Pose und legt ihre Beine über die meinen. Dann legt sie sich um und … Weitere Fotos gibt es nicht. Während ich diese Bilder betrachte, erinnere ich mich noch dunkel, dass ich Scott später am Abend sogar fragte, ob ich missbraucht wurde. Angeblich nicht. Ich wache erst wieder auf, als sämtliche Lichter verloschen und die Gäste abgehauen sind. Alle Gäste? Nein, Patrick, Scotts unterhaltsamer Bruder ist noch da und pennt ebenfalls im Wohnzimmer. Von alleine werde ich übrigens nicht wach: Patrick will sich ein Glas Wasser einschenken, schmeißt dabei jedoch einen Haufen Stifte mit lustigen Blinklichtern vom Tresen auf den Boden. Da die Lichter auf Druck reagieren, fangen sie sofort an, blau und rot zu blinken.
»Jesus fucking Christ«, höre ich Patrick leise fluchen. Fünf Sekunden später schmeißt er Geschirr auf den Boden: »Jesus fucking Christ!«

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