Tag 87: Clash of the Bromances
Serendipity – Teil 2

Montag, 4. Februar 2013
Ventura – Santa Monica – Hollywood, Los Angeles
Meine Kreditkarte funktioniert wieder! Also möchte ich die Runde einladen, die sich jedoch geschlossen und vehement dagegen wehrt.
Nach dem FrĂĽhstĂĽck holen wir Laurens Auto vorm Social Tap ab und fahren wieder zurĂĽck in die WG.
Für mich heißt es, ein Zugticket klarzumachen. Verdammt, ist das traurig. Ich würde liebend gerne noch viel länger bei diesen, mir in kürzester Zeit so sehr ans Herz gewachsenen Menschen bleiben. Doch ich muss weg, denn – und das schmerzt nicht nur beim daran Denken, sondern sogar schon beim Niederschreiben – heute ist mein vorerst letzter kompletter Tag in Amerika. Morgen endet diese großartige Reise. Ich könnte heulen, spare es mir aber lieber für den tatsächlichen Abschied auf. Meine Melancholie dürfte trotzdem jedem bemerkbar sein. Ich bin schlecht darin, Emotionen für mich zu behalten. Früher merkte ich es beispielsweise, wenn ich mies gelaunt mit meinen Eltern und Geschwistern im Auto saß. Meine Aura muss in solchen Momenten anscheinend ätzend erdrückend sein. Zumindest sprach dann niemand ein Wort, bis meine Mutter sich irgendwann schließlich umdrehte, mir entweder aufmunternd ihre Hand aufs Knie legte oder genervt, aber zugleich auch wieder beschwichtigend lächelnd so etwas sagte wie: »Boah, sei mal wieder gut gelaunt! Das ist ja schrecklich!«
Am heutigen Tage ist meine Laune anders. Es wird gesprochen und es wird gelacht. Außerdem bin ich von drei Sonnenscheinen umgeben: Lauren ist ein Schatz, Scott sowieso der Beste und Patrick cool und ulkig, was Jesus fucking Christ noch mal auch an seinem blöden Schnurrbart liegt. Wir alle sollten uns vor der Macht der Person in Acht nehmen, die es geschafft hat, den Schnauzer als hip zu verkaufen! Direkt darauf folgt der Mensch, der es vermochte, Leute davon zu überzeugen, sich ihre Ohrläppchen mit Tunneln bis zu den Schultern zu weiten. Doch ich schweife ab … oder lenke mich vielmehr ab. Ich will nicht zurück nach Deutschland.
Ich möchte gerade meinen Rechner einschalten, als sich Lauren und Scott verschwörerisch vor mich stellen: »We’ll drive you.«
Ich verstehe nicht. Das heißt, ich verstehe schon, aber … Das meinen die doch nicht ernst? Ich bin so überrascht, dass ich nicht mehr weiß, ob ich: »What?«, »Are you serious?«, »You gotta be crazy«, »Pardon?«, »Huh?«, oder was auch immer antworte. Bis Los Angeles sind es 100 Kilometer! Noch nicht einmal Spritgeld will Lauren, deren Wagen wir für die Fahrt nehmen. Sie wollte sowieso mal wieder ihren Bruder in Santa Monica besuchen, begründet sie ihre Weigerung. Wo bin ich hier nur gelandet? Ich liebe diese beiden!
Bevor ich morgen Nachmittag abhebe, werde ich meine letzte Nacht in den Staaten mit Ford zelebrieren. Dessen Situation scheint sich leicht verbessert zu haben: Er hat einen Job in einem Restaurant in Venice ergattern können und möchte sich schnellstmöglich hocharbeiten. Der Fleiß und Eifer des Ford Odin Folliard. So kenne ich ihn. Momentan ist er noch immer pleite, da er seinen Lohn erst am Dienstag ausgezahlt bekommt. Heute hat er glücklicherweise frei. Er schreibt, dass wir ihn in Hollywood treffen sollen. Ich bin schon sehr gespannt, ihn wiederzusehen. Scott und Lauren wissen, wer Ford ist, da ich den beiden in den letzten Tagen vermutlich jede Geschichte meiner Reise zum Besten gegeben habe. Und Ford, der mich über mehr als 20 Tage begleitet hat, war bekanntlich bei vielen dieser Erlebnisse und Abenteuer von tragender Bedeutung. Außerdem ist er einfach ein Freak, über den man reden und von dem man schwärmen muss. Dementsprechend freue ich mich auch, ihn nach fast drei Wochen noch einmal zu Gesicht zu bekommen, bevor ich abhauen muss. Wir parken den Wagen in der Las Palmas Avenue, einer Seitenstraße des Sunset Boulevard.
Wo genau wir Ford treffen sollen, hat er uns noch nicht mitgeteilt. Darüber hinaus braucht er noch ein Weilchen bis Hollywood. Somit bleibt Lauren, Scott und mir noch Zeit, um den Sunset Boulevard zu erkunden. Wir kommen an einem Schaufenster vorbei, hinter dem sich eine wahrlich ulkig erscheinende Religionsgemeinschaft eingemietet hat: Eckankar, the Religion of the Light and Sound of God. Im Fenster hängt in einem goldenen Rahmen die Beschreibung, wie man das »HU« singt: »With eyes open or closed, take a few deep breaths to relax. Then begin to sing ›HU‹ in a long drawn out sound like this: ›HU-U-U-U-U‹. Take another breath and sing ›HU‹ again. Continue for one to twenty minutes. Sing ›HU‹ with a feeling of love and it will gradually open your heart to God.«
Nachdem wir nicht ganz 20 Minuten lang voll Liebe: »HU-U-U-U-U« gesungen haben, zieht es uns 600 Meter weiter in einen äußerst coolen und äußerst großen Plattenladen. Bei Amoeba Music gibt’s eigentlich alles. Ich checke die Punk-Abteilung und kaufe mir neue Kopfhörer. Somit kann ich zum Glück im Flieger endlich wieder Musik hören.
Wir drücken uns herzlich und strahlen um die Wette. Ich mache meine drei Freunde miteinander bekannt und lade auch Ford zu einem Drink ein. Ich finde es toll, dass wir tatsächlich alle beisammensitzen. Ford ist neugierig und möchte wissen, was wir gemeinsam erlebt haben. Also antwortet ihm Scott, berichtet davon, wie wir uns kennengelernt haben, vom Surfen, Fallschirmspringen, Pogotanzen, davon, dass ich den Super-Bowl-Blackout verschlafen habe, von den Hot Springs, dem kalten Fluss und dem mysteriösen »Serendipity-Hippie«. Wir schwelgen gemeinsam in unseren Erlebnissen und lassen uns gegenseitig noch einmal wissen, wie cool und inspirierend der jeweils andere ist.
»We had a perfect time together«, schließt Scott ab.
Ford, der uns aufmerksam zugehört hat, schaut zunächst Scott noch einen kurzen Moment in die Augen, bevor er seinen Blick zu mir wandern lässt: »So did you guys also have sort of a bromance? Is there a reason for me to be jealous?«
Obwohl Ford speziell bei der zweiten Frage bis über beide Ohren grinst, reagieren Scott und ich seltsamer- und amüsanterweise tatsächlich so, als wären wir ertappt worden: »Uhm … well …«
Scott fängt sich schneller wieder und beschwichtigt taktisch hervorragend: »But Dennis talked a lot about you – if that makes it feel better for you.«
Ich glaube, dass dies die schönste vollkommen absurde Situation seit Langem ist. Das Aufeinandertreffen von Ford, dem Lauten und Scott, dem Bescheidenen: Clash of the Bromances!
Es kommt der Moment, der schließlich kommen musste: Es wird emotional, denn Lauren und Scott verabschieden sich. Schon faszinierend, wie sehr einem Menschen in so kurzer Zeit vertraut und wichtig werden können. Wer weiß, was in meiner letzten Woche in den Staaten passiert wäre, wenn ich nicht Lauren, Kevin und Scott auf der Promenade begegnet wäre? Die Kreditkarte hätte nicht funktioniert, weswegen ich im schlimmsten, vermutlich aber auch realistischsten Fall auf der Straße hätte pennen müssen. Wahrscheinlich hätte ich mich erkältet und nicht tauchen, sondern nur dumm auf dem Boot herumsitzen können. Das bereits bezahlte Geld hätte ich aller Wahrscheinlichkeit nicht zurückbekommen. Und wie wäre ich überhaupt an Essen gekommen? Der »perfekte Tag« hätte nie stattgefunden. Ja, die komplette Zeit seit Chris’ unverschämter Ausladung hätte dermaßen in die Hose gehen können, sodass ich möglicherweise nur Chris verflucht, ihm die Schuld gegeben und meine Reise auf absolut unwürdige Weise beendet hätte. Ich kann Lauren und im Speziellen Scott gar nicht genug danken. Welch wunderbare Menschen!
Als die beiden weg sind, grinst mich Ford fett an. Da ist etwas, dass er mir unbedingt mitteilen will. Es springt mich regelrecht an.
»What’s up?«, frage ich ihn daher. Und schon platzt er: Er jauchzt, dass er kurz davor war, Scott und mir aus Spaß eine Szene zu machen, sich letztlich aber doch dazu entschieden hat, es besser sein zu lassen, da er nicht weiß, ob Scott ebenfalls darüber hätte lachen können. Er kennt ihn ja nicht. Nun, da wir alleine sind, will er mir seine Szene natürlich nicht länger vorenthalten: »So you guys had a bromance, too. Yeah? Well, awesome! Wet suit, hot springs … Dennis, what happened? WHAT HAPPENED?«, regt er sich gekünstelt auf und steigert sich weiter in die Szene. Als Scott ihm antwortete, dass ich viel von ihm geredet habe, hätte er Scott am liebsten angebrüllt: »Ah, yeah? Why? Did he yell my name in bed? Did he scream my name when he came? He always did so with me, bitch!«
Ah, Ford! Was hat er mir gefehlt! Ich muss mich am Tresen festhalten, um nicht vor Lachen vom Barhocker zu kippen, und ich bin mir absolut sicher, dass auch Lauren und Scott sich kaputtgelacht hätten. Zu schade, dass er sich zurückgehalten hat.
Ich stelle Ford die Frage, die mir schon die ganze Zeit auf der Zunge liegt: Wo schläft er? Die Geschichte, die ich daraufhin zu hören bekomme, erstaunt mich zutiefst und bezeugt aufs Neue, dass man mir nicht mehr mit dem Gerücht der amerikanischen Oberflächlichkeit kommen soll: Ford musste sein Handy aufladen und ins Internet. Also betrat er mit seinen Koffern einen Laden namens MacHollywood, einem Apple-Spezialisten, schräg gegenüber der Bar, in der wir gerade sitzen. Die Betreiber des Ladens hatten kein Problem damit, sein Telefon aufzuladen. Ins Internet durfte er auch.
»Solange es nicht für immer ist«, meinte der eine.
»Eigentlich ist es auch egal, wenn es für immer ist«, erwiderte der andere.
Wenige Tage später kam Ford wieder und bat erneut darum, sein Handy aufladen zu dürfen. Als er zum dritten Mal anrückte, fragte ihn einer, was für ein komischer Vogel er überhaupt sei, dass er ständig mit Koffern den Laden betrete, um sein Handy aufzuladen. Ford erklärte den Jungs seine Situation, die dafür vollstes Verständnis zeigten: »Wer nach L.A. zieht und dabei nicht auch mal obdachlos ist, ist kein wahrer Künstler.«
Diese These erhielt Zustimmung von allen Seiten im Laden. Einer der Angestellten lud Ford daraufhin dazu ein, auf der geschlossenen Ladefläche seines Trucks auf dem Privatparkplatz hinter dem Laden zu pennen. Er könne den Wagen problemlos dort stehen lassen und stattdessen morgens mit dem Roller zur Arbeit fahren. Seitdem steht der Wagen mit einem unverriegelten Fenster auf dem Parkplatz und bietet Ford ein Obdach.
Mir steht der Mund noch immer offen, als wir den Parkplatz erreichen. Wegen ein paar kiffender Kiddies, die sich auf dem Parkplatz vor Cops und zu neugierigen Blicken verstecken, kann Ford das unverriegelte Fenster nicht öffnen, um sein Gepäck im Wagen zu verstauen. Niemand darf sehen, dass das Fenster offen ist und Ford in den hinteren Teil des Wagens gezogen ist. Die Kids haben ihr Pfeifchen fertig geraucht und hauen ab, als sich die Hintertür des Ladens öffnet und einer der »Macianer« aus ihr heraustritt. Er grüßt uns freundlich und lässt erst einmal eine äußerst dicke Pfeife kreisen. Halleluja. Die Tür öffnet sich erneut und Fords »Landlord« betritt den Parkplatz. Wie ich mich nun selbst davon überzeugen kann, ist nicht nur das, was Ford mir kurz zuvor über ihn erzählt hat, sondern der ganze Mensch offensichtlich total lieb. Er möchte wissen, woher ich komme: »Germany. I’m living in Berlin, but I’m originally from close to Frankfurt.«
Als er das hört, schmunzelt er: Er kommt nämlich aus Philadelphia, wo es einen Arzt gibt, der Dr. Frankford heißt. Verrückt. Er erteilt uns die Erlaubnis, dass auch ich heute Nacht im Auto übernachten darf. Da wegen Ford und dessen Gepäck die Ladefläche bereits ziemlich voll ist, schließt er mir für die Nacht sogar die Fahrerkabine auf und benimmt sich dabei wie ein Gastgeber, der uns seine Wohnung vorstellt. Unfassbar nett.
Gegen 18 Uhr verschwindet Ford noch einmal für eine Zeit lang. Ich nutze dies, um ein letztes Telefonat mit Cari zu führen …
Ich habe eine Abschieds-SMS an alle in meinem amerikanischen Handy gespeicherten Kontakte geschickt. So ziemlich jede Person, die ich in den letzten drei Monaten kennenlernen durfte, antwortet darauf und verabschiedet sich von mir. Die vielleicht schönste SMS bekomme ich gegen 21 Uhr von Scott und Lauren: »We already miss you so much! We are so blessed to have you be part of our lives. Remember all the great times and how much you’re loved in California! Stay safe and groovy!«
Als Ford wiederkommt, räumt er aus unerfindlichen Gründen zunächst einmal sein komplettes Gepäck aus dem Wagen. Ich bin mit meinen Gedanken woanders, denke an den Abflug, die vergangenen drei Monate, Cari … Ich bekomme also nicht wirklich mit, was er mir da erzählt und vorführt. Dann wird mir offenbar, dass er sehr melancholisch, fast schon fertig wirkt. Der Arme lebt nun schon seit über einem Monat auf der Straße. Daher unterbreche ich ihn und bitte ihn, seinen Kram wieder ins Auto zu packen, da wir jetzt essen gehen werden. Ich lade Ford in ein thailändisches Restaurant ein, was ihn köstlich amüsiert: »Yeah, yeah, yeah! Let’s make your last supper in America a typical American one: Let’s go to a Thai restaurant!«
Ich schlage vor, dass wir auch woanders hingehen können, wenn er keine Lust auf Thai hat und ich diesen Abend schließlich ihm und seinen Wünschen widmen möchte. Er schüttelt vehement den Kopf: »Thai is just fine.«
Im Restaurant dauert es nicht lange, bis alle mitbekommen haben, dass Ford und ich anwesend sind – was natürlich ausschließlich an Ford liegt. Der möchte nämlich den Namen vom Kellner wissen, ein paar Vokabeln lernen, Fotos von mir machen und sich mit dem Nachbartisch unterhalten. Ein Leben ohne Ford kann eigentlich nur langweiliger werden. Als wir uns noch für ein Bierchen in den Innenhof des W Hotel an der Ecke Hollywood und Vine verziehen, hebt er seine Flasche und verkündet: »This is a friendship for a lifetime.«
Das wäre nur allzu schön.