… Wieso eigentlich Tupamaros Film Productions?

Tupamaros MLN

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der MLN Tupamaros im Vergleich mit dem der Tupamaros Film Productions (2005–2018).
Seit April 2018 gibt es das neue Logo:

Dennis Knickel (© 2018)

Von Goldeseln und Tupamaros

Die Banküberfälle der uruguayischen MLN Auszug aus dem Buch »Va Banque«


 
Ende September 2001 ist ein Buch erschienen, das sich mit Theorie, Praxis und Geschichte des Bankraubs beschäftigt. Zu diesem außergewöhnlichen Vorhaben haben der Autor Theo Bruns und die Redaktionsmitglieder der Informationsstelle Lateinamerika e.V. Gert Eisenbürger und Gaby Küppers den nachfolgenden Text beigesteuert, der die »Enteignungsaktionen« der MLN-Tupamaros in Uruguay ab Ende der 1960er-Jahre beschreibt. Dabei ging es der Autorin und den Autoren nicht um eine vollständige Chronologie – das wäre auch unmöglich, denn die Banküberfälle der Tupas gingen in die Hunderte –, sondern um die besonderen Merkmale und Charakteristika der Aktionen. Die Tatsache, dass die Überfälle äußerst fantasievoll, mitunter auch skurril waren, brachte den Tupas viele Sympathien ein und garantieren Dir, werter Leser, einen hohen Unterhaltungswert …

Tupamaros

Montevideo. Ankunft am Flughafen Carrasco. Im Osten die Viertel der Reichen, im Westen die Arbeiterstadtteile. Nach einigen Kilometern auf der Küstenstraße taucht auf der rechten Seite ein imposantes Gebäude auf. Als wir hinüberschauen, lächelt der Freund, der uns vom Flughafen abgeholt hat: »Das ist das Kasino von Carrasco. Da waren wir auch mal drin.«
Er ist kein Spieler, sondern Tupamaro, Mitglied einer Organisation, die den »Gewinn« nicht dem Zufall überlassen wollte. Das ist lange her. Aber die Erinnerung ist lebendig geblieben, und es dauert eine ganze Weile, bis das Lächeln von seinen Lippen verschwunden ist.

»Warten auf den Guerillero« lautete der Titel einer Schrift von Raúl Sendic, dem Führer der Bewegung der Zuckerrohrarbeiter. Die von ihm organisierten Protestmärsche der Cañeros auf Montevideo hatten die Landoligarchie nicht zum Einlenken bewegen können. Unter dem Einfluss der kubanischen Revolution entwickeln sich Anfang der 60er-Jahre die MLN-Tupamaros. Ihr Credo lautet: Erst das revolutionäre Handeln einer bewussten Minderheit, eines bewaffneten Kerns schafft eine revolutionäre Situation. Die Guerilla ist der subjektive Zünder, der kleine Motor, der den großen Motor der Revolution in Gang setzt. Im Unterschied zum kubanischen Modell konnte in Uruguay die Guerilla nicht vom Land ausgehen, sondern organisierte sich im urbanen Raum Montevideos. Ihre Inspiration bezog sie weniger von lateinamerikanischen Vorbildern als aus dem Studium der französischen Résistance, der algerischen Revolution sowie des Kampfes der Juden unter der britischen Mandatsmacht in Palästina.

»Dezember 1963. Das Weihnachts- und das Neujahrsfest stehen vor der Tür. Für manche werden diese Feste Anlass sein, sich zu amüsieren, sich zu beschenken und gut zu essen. Für andere werden diese Tage ebenso trübe und traurig verlaufen, wie alle übrigen Tage ihres armseligen und von Hunger geprägten Lebens. Natürlich bedeuten einige gute Tage im Leben nicht viel, und es kommt darauf an, dass alle Menschen an jedem Tag ihres Lebens glücklich sind. Dies ist wichtig, und dafür muss man kämpfen.«
So beginnt das Kapitel »Cantegriles« in »Wir, die Tupamaros«, einem Buch, in dem die Guerilleros ihre eigenen Aktionen schildern. Unter einer fingierten Adresse wurde bei der Aktiengesellschaft Manzanares ein LKW mit Lebensmitteln bestellt. Der LKW wurde von einem »Empfangskomitee« beschlagnahmt, und die Lebensmittel an die Bevölkerung des Slums verteilt – zusammen mit Flugblättern, denn man will keine passive Bewunderung auslösen, sondern Bewusstsein schaffen, »Brandherde der Rebellion« entfachen. Obwohl sich für diese Aktion noch ein Kommando »José Artigas« (uruguayischer »Nationalheld«) verantwortlich zeichnete, wird sie später mit den Tupamaros identifiziert und trug maßgeblich zum »Robin-Hood-Image« der Bewegung bei. Eine List der Geschichte, sollte dies doch die einzige Operation dieser Art bleiben und spätere Enteignungen der Eigenfinanzierung der Organisation und der revolutionären Aktion dienen. Es sei unsinnig, der Bevölkerung »heute Brot und morgen Hunger« zu geben, hieß es in einem späteren Text.

Eine geradezu klassische Aktion der Stadtguerilla ist die Enteignungsaktion – und ihre bevorzugte Form der Bankraub.
»Was die Bewaffnung angeht, so übernimmt die Stadtguerilla die Grundregeln der Landguerilla: ›Sich beim Feind versorgen‹. Für den Kampf der Stadtguerilla gilt, dass Fahrzeuge und Wohnungen als strategische Mittel ebenso wichtig sind wie Waffen. Zur Vorbereitung von Aktionen muss die Guerilla große Geldsummen enteignen; mit dem Geld kann sich die Stadtguerilla ihre Sierra Maestra kaufen. Das heißt: sichere Räume, Werkstätten, technische Ausrüstung und auch die Waffen. So wird die Enteignung genauso zu einem strategischen Instrument wie Maschinen, Wagen und Waffen.«
Dass Kontinuität ein »Hauptgesetz der Stadtguerilla« ist, bewiesen die Tupamaros auch auf diesem Gebiet in beeindruckender Form: Allein zwischen 1968 und März 1971 zählte die Polizei 74 Banküberfälle, die der revolutionären Organisation zugerechnet wurden. 1970 kam es zu einem Vorfall, der wohl weltweit einmalig sein dürfte: Bankfilialen wurden geschlossen, um zu verhindern, dass sie ausgeraubt wurden. Die Enteignungsaktionen dienten nicht der persönlichen Bereicherung, sondern verstanden sich als revolutionäre Aktion, als »Teil des Klassenkampfes«. Um diesen besonderen Charakter kenntlich zu machen, waren sie nicht nur von propagandistischen Aktionen begleitet, wie z. B. der Veröffentlichung gestohlener Firmenunterlagen, die Korruption oder verdeckte Geschäfte bekannter Politiker aufdeckten, sondern sie bediente sich auch eines charakteristischen, unverwechselbaren Stils.

Caja Obrera. Einer der ersten Bankraube findet im Oktober 1966 statt. Er nimmt geradezu burleske Züge an. Die Bank wird am Mittag eine Viertelstunde vor der offiziellen Öffnungszeit besetzt, indem ein »falscher Polizeibeamter« sich Zugang zum Gebäude verschafft. Seine Uniform musste zuvor notdürftig zusammengeflickt werden, da sie in ihrem Versteck von Ratten angenagt worden war. Die nach und nach eintrudelnden Angestellten werden festgenommen und auf der Toilette eingeschlossen. Da sich der Bankdirektor, der im Besitz des Tresorschlüssels ist, verspätet, wächst ihre Zahl langsam auf acht an. Darüber hinaus erscheint ein Angestellter der Elektrizitätswerke, um den Stromzähler abzulesen. Letztlich geht alles gut, und der Inhalt des Tresors verschwindet in den Taschen des Kommandos. Einige Charakteristika werden deutlich: »Falsche Polizisten« werden auch bei späteren Aktionen wieder auftauchen, und auch ein zweites Merkmal ist bereits feststellbar: der Einsatz einer verhältnismäßig großen Anzahl von an der Aktion Beteiligten. Diesmal werden es 14 Genossinnen und Genossen sein. Eine Überlegenheit, die darauf abzielt, den Einsatz von Schusswaffen möglichst zu vermeiden. Verkleidung – ein Trauerzug inklusive Leichenwagen – und große Zahl (50) werden sich u. a. bei der Besetzung der Kleinstadt Pando wiederholen, in deren Verlauf drei Banken ausgeraubt werden. Pando ist allerdings auch eine Warnung: Die Aktion endet beim Rückzug in einem Desaster; drei Tupamaros werden erschossen, mehrere verhaftet. Mögen die eingesetzten Mittel auch spielerisch wirken – die Aktion ist es nicht.

Die politische Bestimmung des Bankraubs bedingt seine Form, die Art seiner Durchführung seinen spezifischen Stil. Die »Stilelemente«, die »Ästhetik« werden dadurch nicht unwichtig, sie erweisen sich vielmehr als Momente einer durchdachten Strategie, die stets auf Vermittelbarkeit und Rückkoppelbarkeit zu den Massenkämpfen bedacht ist. Die Unterlegenheit der Guerilla in Bezug auf materielle Ressourcen kann nur durch einen Vorsprung an Fantasie ausgeglichen werden. Uniformen werden aus dem Atelier eines Militärschneiders entwendet, aber auch aus der Requisitenkammer eines Theaters – und sogar zurückgegeben, wenn sie sich als untauglich erweisen. Die ersten Waffen werden bei einem Einbruch in den Schweizer Schießclub erbeutet, andere bei Überfällen auf Polizeistationen. Als Basen dienen eine Privatschule für Buchhaltung, ein Jugendclub, eine Sprachschule. Perfekte Tarnung gehört zur Überlebensstrategie. Ziel der Aktionen ist es, die Repressionskräfte zu demoralisieren, letztlich eine Dualität der Macht aufzubauen. Einfallsreichtum und Verkleidung, die den Autor Alain Labrousse bei manchen Aktionen an eine »komische Oper« denken ließen, machen den Gegner lächerlich und streichen die eigene Überlegenheit heraus, erwecken Sympathie und zeigen der Bevölkerung, dass der Apparat verwundbar ist. Schließlich: Kaltblütigkeit, minutiöse Planung, Geschwindigkeit. Die verschiedenen Schritte einer Aktion greifen nahtlos ineinander, gehorchen einer Choreografie, als hätte sie ein »Ballettmeister« einstudiert.

Panzerknacker: Auch diese Methode kommt bei den Tupamaros zum Einsatz. Ort der Handlung ist das palastartige Anwesen einer der reichsten Familien der uruguayischen Oligarchie, der Mailhos. In ihm befindet sich der »Goldesel«, ein Safe, der den Reichtum der Familie birgt und üppige Beute verspricht. Roberto Filippone, ein Angestellter des Hauses, der durch den »Widerspruch der Verweigerung des Nötigsten mit den fantastischen Reichtümern mancher Familien« sensibilisiert wurde und sich klar gemacht hat, »dass Geld unheimlich wichtig für die Revolution ist«, hat den Tipp gegeben und sich den Tupamaros angeschlossen. Es dürfte eine der schweißtreibendsten Arbeiten der Organisation gewesen sein. Der Safe wiegt sage und schreibe 1.500 Kilogramm: Ihn in der Wohnung zu knacken ist zu zeitraubend, und man beschließt, ihn abzutransportieren. Dazu sind Rollen, Flaschenzüge und Planken notwendig. Eine Wand muss aufgebrochen werden, um Platz zu schaffen. Der Hausmeister und seine Familie müssen festgesetzt und beruhigt werden. Die Aktion verläuft am Wochenende in der Nacht von Samstag auf Sonntag. Erst im Morgengrauen schaffen sie es, den Safe auf den bereitstehenden Lastwagen zu wuchten. Eine Milliarde Pesos in Pfund Sterling und Goldbarren fließen in die Kassen der Organisation. Auf einer Tafel pflegten die Mitglieder der Familie Mailhos Ort und Dauer ihrer Abwesenheit aufzuschreiben: »Gustavo, Punta del Este, bis zum 2. März. Julio, Paris, bis zum 5. Mai.« Darunter prangt nun die Eintragung: »Roberto Filippone, bis zum Sieg!«

Propaganda. Die Verbindung von Geldbeschaffung und revolutionärer Propaganda gelingt beispielhaft beim Überfall auf die Anlagefirma Monty. Das Unternehmen gehörte zur Banco de Crédito. Diese hatte die Firma gegründet, um ihre schwarze Buchführung zu tarnen. Der Zweck des Unternehmens waren Steuerhinterziehung und Goldgeschäfte, die mit angeblichen Transaktionen mit Firmen in Panama oder auf den Bahamas kaschiert wurden. Lucía Topolansky, eine junge Studentin und Aktivistin der Tupas, kam auf der Suche nach einer Studienfinanzierung zufällig als Sekretärin in das Unternehmen. Als sie feststellte, was sich hinter ihrem Arbeitsplatz verbarg, informierte sie die Organisation. Am Freitag, 14. Februar 1969, überfielen die Tupamaros die Büroräume der Anlagefirma. Dank Topolanskys Tätigkeit waren sie bestens informiert, kannten sogar die Kombination des Geldschranks. Sie fesselten die Angestellten, öffneten den Tresor und holten in acht Minuten problemlos Geld – mehrere Zehntausend Dollar – und belastende Papiere heraus. Kurz nach ihrer Flucht trifft eine ahnungslose Angestellte ein, befreit die Gefesselten und informiert den Geschäftsführer. Eine halbe Stunde später findet eine Versammlung unter Anwesenheit der Chefs statt. Man will die Polizei nicht einschalten. Am nächsten Tag gibt die MLN-Tupamaros ein Flugblatt heraus, in dem sie die Verantwortung für den Überfall übernimmt. Doch das ganze Wochenende über geschieht nichts. Schließlich wendet sich die MLN an die Presse, die Polizei und verschiedene Persönlichkeiten. In der Innenstadt Montevideos tauchen Flugblätter auf, in denen die Tupas ausführlich über Aktivitäten und Personalverwicklungen der Monty berichten. Keine Reaktion. Einem Radiosender und dem Untersuchungsrichter Arturo Otero werden Kopien der enteigneten Bücher zugespielt. Die Monty schweigt weiter. Am Dienstag begründet ein Polizeisprecher die Untätigkeit der Polizei damit, dass die Überfallenen den Überfall nicht gemeldet hätten, der Fall liege nun in den Händen der Justiz. Als die ersten Presseberichte erschienen, dementierte die Monty formell. Weder Geld noch Akten seien gestohlen worden. Nur Tage nach dem Überfall werden die Räume der Monty durch einen Brand vernichtet. Die Feuerwehr stellt Brandstiftung fest. Die öffentliche Meinung weiß, woran sie ist. In Umfragen spenden mehr als 90 % der Uruguayerinnen und Uruguyer der MLN-Aktion Beifall. Im Justizapparat wird im Oktober der mit den Ermittlungen beauftragte Richter versetzt. Zwei Jahre später wird Lucía Topolansky, die nach dem Überfall in die Klandestinität abgetaucht war, festgenommen. In ihrer Akte steht der Fall Monty. Sie und ihr Rechtsanwalt entscheiden, den Fall in ihrem Verfahren aufzurollen. Doch ihre Anträge bleiben in den Mühlen der Justiz hängen. Später gelingt Lucía Topolansky die Flucht aus dem Gefängnis. Nach ihrer erneuten Verhaftung ist der Komplex Monty aus ihrer Akte verschwunden. In die schwarzen Geschäfte des Unternehmens waren zahlreiche Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens verwickelt. Eine Woche nach dem Überfall trat einer der Hauptaktionäre der Banco de Crédito, Landwirtschaftsminister Carlos Frick Davies, zurück. Alle anderen, deren Namen in den illegalen Transaktionen auftauchen, blieben in ihren Ämtern.

Heißer Sommer. Am 18. Februar 1969, nur vier Tage nach dem Überfall auf die Monty gelingt den Tupamaros eine weitere spektakuläre Enteignungsaktion: Sie überfallen das Spielcasino San Rafael in Punta del Este. Die Beute: umgerechnet eine halbe Million Mark. Punta del Este – der mondäne Badeort 150 Kilometer östlich von Uruguays Hauptstadt, dort wo die Trichtermündung des Río de la Plata endgültig zum Atlantischen Ozean wird, ist seit Jahrzehnten das Mekka der Reichen nicht nur Südamerikas. Argentinische Großgrundbesitzer, brasilianische Industriebosse, aber auch der griechische Reederkönig Aristoteles Onassis oder der im Amt ergraute deutsche Playboy Gunter Sachs hatten bzw. haben dort ihre Villen. Anfang 1979 heckten die Guerilleros den Plan »Heißer Sommer« aus, der – so schrieben sie – »den Pulvergeruch in die Bastionen der Bourgeoisie« blasen sollte. Sie wollten sich nicht in einen Abnutzungskrieg gegen die Polizei verwickeln lassen, während die herrschende Klasse in aller Ruhe Champagner schlürfte. So erhielten viele Reiche in diesem Sommer ungebetenen Besuch. Die Gäste stürmten Villen, zerschlugen Porzellan und Kristall, teerten Perserteppiche, kippten Whisky in die Blumentöpfe und zerrupften die Pelze. Auch bei Onassis wurden sie vorstellig und entwendeten ein Gewehr. Höhepunkt des heißen Sommers war der Überfall auf das Spielcasino San Rafael (in Uruguay sind Januar und Februar die heißesten Sommerferienmonate). Einer der beteiligten Tupamaros war der Schriftsteller Mauricio Rosencof. Er erinnert sich:
»Am 18. Februar 1969, um 17 Uhr, steigt der Hauptkassierer des Spielkasinos San Rafael aus dem Omnibus. Er ist nach getaner Arbeit auf dem Weg nach Hause. Zwei uniformierte Polizisten treten auf ihn zu, weisen sich mit der Marke aus und fordern ihn auf, sie aufs Revier zu begleiten, um eine Routineangelegenheit zu klären. Er steigt ein. Doch der Streifenwagen biegt in eine Seitenstraße, wo die Polizisten ihre Waffen ziehen und den Kassierer zur Herausgabe der Tresorschlüssel zwingen. Mit dem Gefesselten klingeln sie an der Pforte des Spielkasinos. Dort halten sich nur Putzfrauen und ein paar Wachleute auf, die die vermeintlichen Polizisten einlassen. Als sie sich zu erkennen geben, erleidet die Putzfrau Doña Tomasa einen Nervenzusammenbruch und bittet die Räuber, an ihre Kinder zu denken. Sie wird beruhigt: ›Sorgen Sie sich nicht um Ihre Kinder, es wird ihnen nichts passieren. Das hier machen wir für Ihre Kinder, für unsere Kinder und für alle. Das Geld ist für das Volk.‹
Das Kommando öffnet den Safe. Nach sieben Minuten steigen die Räuber, ohne einen Schuss abgegeben zu haben, in ihre Wagen und brausen davon.«
Die Tupamaros hatten aller Welt demonstriert, dass ein bewaffneter Angriff auf die gehüteten Enklaven der Reichen möglich war. Zudem hatten sie eine riesige Beute erzielt. Aber auch in der Stunde des Erfolgs blieb sparsame Kassenführung eine revolutionäre Pflicht, wie sich Rosencof erinnert:
»Das war unglaublich viel Geld für die Organisation. Es war mitten in der Feriensaison, mit all den Superreichen aus Buenos Aires, die sich von ihren Jachten direkt ins Kasino begeben. Raúl Sendic und ich hatten wochenlang San Rafael von gegenüber aus einer Bar observiert, stets bei einem Glas Sprudel. Aber in der Nacht nach der Operation fuhren wir zum Feiern nach Maldonado und Sendic sagte: ›Wir haben uns einen Schluck verdient!‹ Auf Kosten der Operation tranken wir einen Grappa mit Zitrone. Und als wir das Glas ausgetrunken hatten, sagte er: ›Wenn du noch einen willst, musst du ihn aus eigener Tasche zahlen‹.«

Revolutionäre Ehre. Die Beute des Überfalls auf das Casino San Rafael enthielt auch die Trinkgelder der Croupiers – Löhne von Arbeitnehmern also. Arbeitern aber wollten die Tupas grundsätzlich nichts rauben. So standen sie mehrfach vor einem Dilemma, wie sich Rosencof erinnert:
»Dieses Problem hatte sich auch bei der Enteignung der Sparkasse gestellt, in deren Safes die Leute ihren Familienschmuck aufbewahrt hatten. Wir hatten insgesamt vierzehn Säcke Juwelen herausgeholt, und plötzlich protestierten die Leute in Leserbriefen und forderten ihren Schmuck zurück. Sie hatten sogar ein Komitee gegründet. Wir teilten ihnen über eine Presseerklärung mit, dass wir dazu bereit seien und dass wir genaue Beschreibungen erwarten, nach denen wir die Klunker sortieren könnten. Auch das Trinkgeld der Croupiers in San Rafael wollten wir an die Beschäftigten zurückerstatten.«
Doch der Vorsatz scheiterte an seiner praktischen Durchführbarkeit. Die Situation in Uruguay hatte sich zugespitzt. Nicht zuletzt durch die Operation »Heißer Sommer« waren die Mächtigen in helle Aufregung versetzt. Die Auseinandersetzung begann, in einen Bürgerkrieg auszuarten, in ein Gemetzel zwischen Todesschwadron und Revolution.

Komische Oper. Das Ausmaß der skurrilen Szenen, die sich beim Einbruch in die Banco Francés e Italiano am 27. Dezember 1969 ereigneten, würden wohl selbst die Fantasie eines auf komische Verwicklungen spezialisierten Operettenlibrettisten übersteigen. Nach den Weihnachtsfeiertagen vermuteten die Tupamaros in der Bank einen prall gefüllten Tresor und Material über illegale Finanztransaktionen ins Ausland. Drei Wochen lang observierten sie die Bank, um sich über alle Details des täglichen Betriebs genauestens zu informieren. Dann stand der Plan: Eine Konditorei sollte beauftragt werden, nach Schalterschluss im Namen eines potenten Kunden Leckereien als Jahresabschlussgeschenk in der Bank anzuliefern – eine durchaus landesübliche Sitte. Auf dem Weg dorthin sollte der Wagen abgefangen und die Konditoreiangestellten gegen Tupas ausgetauscht werden, die sodann mit Kuchentabletts und dem üblichen Cidre unverdächtig in die Bank eindrängen. Die telefonische Bestellung bei der Konditorei am 24. Dezember sorgt für eine böse Überraschung. Alle Autos für den geplanten Tag der Aktion waren ausgebucht. Der Plan muss verändert und wieder auf die Variante »falsche Polizisten« zurückgegriffen werden. Am 27. Dezember, kurz vor Schalterschluss beziehen die beteiligten Tupamaros ihre Positionen in der Nähe des Personaleingangs der Bank. Unverhofft tippt einem von ihnen ein ahnungsloser Bekannter auf die Schulter. Der Genosse antwortet einsilbig, doch der Bekannte lässt sich einfach nicht abschütteln. Der Zeitplan gerät in Gefahr – da verabschiedet sich die Plaudertasche buchstäblich in letzter Minute. Zum vereinbarten Zeitpunkt klingelt ein vermeintlicher Bote der Telegrafengesellschaft bei der Bank, um ein Telegramm abzugeben. Seine Uniform ist täuschend echt, maßgeschneidert in einer klandestinen Schneiderei. So schöpft der Portier keinerlei Verdacht und öffnet die Tür, um den Erhalt des Telegramms zu bestätigen. Sofort schieben sich sechs Männer in den Eingang, gegenüber dem überraschten Wärter weisen sie sich als Polizisten der Ermittlungskommission aus. Die Bank müsse durchsucht werden, soeben sei eine Bombendrohung eingegangen. In Windeseile ist das gesamte Personal im Empfangsraum im Erdgeschoss versammelt. Die falschen Polizisten informieren die erschrockenen Angestellten über das drohende Attentat und fordern sie auf, jegliche Berührung mit elektrischen Geräten und Telefonen zu vermeiden, um nicht unbeabsichtigt die Explosion der Bombe auszulösen. Inzwischen sind weitere »Polizisten« in der Bank eingetroffen. Alle Angestellten beteiligen sich an der sorgfältigen Durchsuchung des Gebäudes. So ist ihre Gesamtzahl – exakt 32 – schnell ermittelt. Die anfängliche Panikstimmung legt sich bald. Nach rund einer halben Stunde geben sich die Bankräuber als solche zu erkennen und fordern vom Hauptkassierer den Schlüssel des Tresorraums. Dieser händigt ihnen seinen aus, fügt jedoch hinzu, dass zur Öffnung ein zweiter Schlüssel notwendig sei. Den habe der Bevollmächtigte Nelson Barocco, welcher bereits zu einer Essenseinladung in den Club Español gefahren sei. Erneute Umdisposition. Zwei der Bankräuber fahren zum Club Español, machen Barocco ausfindig und teilen ihm mit, der Geschäftsführer Berri habe Selbstmord begangen. Er, Barocco, solle kurz mit zur Bank kommen, um mit seinem zweiten Schlüssel den Tresorraum zwecks Überprüfung zu öffnen. Barocco sieht sich ertappt. Er habe seinen Schlüssel für den Wochenbeginn regelwidrig bereits dem nächsten Bevollmächtigten Hector Brunetto weitergegeben. Aber er könne sie in seinem Wagen zum Haus Brunettos fahren. Im Auto treibt man Konversation, ein völlig unfähiger Mensch sei sein Chef gewesen, mutmaßt Barocco, so etwas treibe wohl in den Selbstmord. Brunetto ist rasch von der Notwendigkeit, mitzukommen überzeugt. Doch seine Gattin wittert einen fingierten »Ausflug« ihres Mannes und lässt sich erst einmal den Dienstausweis derjenigen zeigen, hinter denen sie seine Saufkumpane vermutet. Da alles offenbar stimmt, fährt Brunetto mit zur Bank. Am Portal verabschiedet sich Barocco und kehrt ohne jeden Verdacht zum Club Español zurück. Mit Brunettos Schlüssel lässt sich der Tresorraum endlich öffnen, doch für den Geldschrank fehlt ein weiterer Schlüssel, der sich – so erfahren die Bankräuber erst jetzt – in der Hand des Kassierers befindet. Der sei ebenfalls bei besagtem Abendessen im Club Español. Mittlerweile ist es zehn Uhr abends. Ein erneuter Trip zum Club Español würde viel Zeit kosten und möglicherweise Aufmerksamkeit erregen. So versuchten die Bankräuber, den Geldschrank mit 300 Millionen Pesos mit Gewalt zu knacken. Doch da steht plötzlich die Frau des Bankdirektors Berri vor der Tür. Das Paar war zu einem Essen eingeladen. Die Ehefrau hatte zu Hause gewartet und dann ungeduldig in der Bank angerufen. Die dort erhaltene Antwort, ihr Ehemann sei leider sehr beschäftigt und könne noch nicht weg, hatte sie stutzig gemacht und auf die Idee gebracht, selbst vorbeizuschauen. Ihre Ankunft vereitelt alle weiteren Aktivitäten. Die Tupas wimmeln sie mit der Nachricht ab, Berri sei bereits fortgegangen, und bereiten den Rückzug vor. Die Aussicht auf die 300 Millionen Pesos muss aufgegeben werden. Immerhin können sie viele vertrauliche Geschäftsunterlagen mitgehen lassen. Bevor die Tupamaros die Bank verlassen, schließen sie das gesamte Personal im Tresorraum ein. Nachdem ihr Rückzug gelungen ist, melden sie den Coup der Polizei, die die Angestellten befreit …

Quellen
Der vorliegende Text wurde von der Website der Informationsstelle Lateinamerika e.V. übernommen.
Das Buch »Va Banque!« ist im Verlag Libertäre Assoziation und dem Verlag der Buchläden Schwarze Risse/Rote Straße erschienen. Hier gibt es mehr Informationen zum Buch.
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Literatur

  • Alain Labrousse: Die Tupamaros. Stadtguerilla in Uruguay, München 1971
  • Interview mit Urbano, in: A. Schubert: Stadtguerilla. Tupamaros in Uruguay – Rote Armee Fraktion in der BRD, S. 57–80, Berlin 1971
  • Régis Debray: Was wir von den Tupamaros lernen können. in: Sozialistisches Jahrbuch 4, hg. v. Wolfgang Dreßen, S. 144–175, Berlin 1972
  • Wir, die Tupamaros, Frankfurt/Main 1973
  • Ernesto Kroch: Ein Hotel als Zankapfel – Heftige Konflikte in der Linken Uruguays, in: ila 211 (Dez. 1997), S. 22/23
  • Uruguay – zwischen Demokratie und Diktatur, dipa-Verlag, Frankfurt/Main 1991
  • Gaby Weber: Ein Mythos stirbt – Tupamaros heute. In: Ernesto Gonzalez Bermejo: Hände im Feuer. Ein Tupamaro blickt zurück, S. 243–265, Gießen 1986
  • Interview von Gaby Weber mit Mauricio Rosencof, 1999, in Montevideo/Uruguay
  • Eleuterio Fernández Huidobro: Historia de los Tupamaros. Tomo 1: Los orígenes; Tomo 2: El nacimiento; Tomo 3: El MLN, Montevideo 1989/90
  • Financiera Monty: la historia de la gran cloaca, in: Mate Armago, Montevideo, 8. Januar 1992
  • El Banco de Crédito y las financieras – Entrevista con Lucía Topolansky, in: Mate Armago, 25. April 1996
  • div. Artikel aus der uruguayischen Tagespresse aus dem Jahr 1969, archiviert und ausgewertet von David Cámpora (Montevideo)